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PolitikEuropa

Haftstrafe für eine Kratzwunde

Olga Kapustina
13. Dezember 2020

Das Regime in Belarus greift immer härter durch. Protestierende werden nun auch wegen kleinerer Vergehen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch eine Belarussin aus der Schweiz geriet so in die Mühlen der Justiz.

Solidaritätskundgebung für Natallia Hersche in ihrer Wahlheimat Schweiz
Solidaritätskundgebung für Natallia Hersche in ihrer Wahlheimat SchweizBild: Privat

"Jeden Brief beendet sie mit den Worten: Glauben! Können! Siegen! (dem Motto der belarussischen Opposition - Red.)", sagt Gennadij Kassjan über seine Schwester, Natallia Hersche. Der 52-Jährige blättert in den Briefen, die sie ihm aus dem Gefängnis geschickt hat. "Es geht mir gut", schreibt sie, und weiter: "Das, was am Anfang wie eine Katastrophe erscheint, könnte sich später als eine große, große Chance herausstellen". Darüber, dass es in der überfüllten Zelle in der Haftanstalt in Okrestino, wo sie die ersten Wochen verbrachte, keine Matratzen gab und das Wasser abgestellt wurde, verliert sie in ihrem Brief kein Wort. Das erfuhr Kassjan von einer anderen ehemaligen Inhaftierten, der Basketball-Nationalspielerin Yelena Leuchanka, die einige Tage mit Hersche und anderen Protestteilnehmerinnen in einer Zelle verbracht hatte.

Haft statt Heimaturlaub

Die 51-jährige Natallia Hersche kommt aus Belarus, lebt aber seit zwölf Jahren in der Schweiz, wo sie einen Job, einen Lebensgefährten und eine erwachsene Tochter hat. Im September fuhr sie in Urlaub in ihre Heimat - eigentlich für zehn Tage. Doch nun ist sie seit fast drei Monaten in Haft. Hersche nahm am 19. September an einer Protestkundgebung belarussischer Frauen teil. An jenem Tag wurde sie zusammen mit fast 350 anderen Protestierenden festgenommen.

Die meisten wurden zur Polizeiwache gebracht und dann entlassen. Hersche musste zuerst wegen einer Ordnungswidrigkeit für 15 Tage in Haft bleiben. Später wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet. Am 7. Dezember wurde sie wegen Widerstands gegen die Polizei zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt: Bei der Festnahme soll sie einem Polizisten die schwarze Sturmhaube runtergerissen und ihm eine Kratzwunde von einem Zentimeter Länge zugefügt haben.

Natallia Hersche bei ihrer Festnahme nach der Teilnahme an einem oppositionellen Frauenmarsch am 19. September 2020Bild: Privat

Repressionen in Belarus

Seit Beginn der Massenproteste nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen am 9. August wurden nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten bereits mehr als 30.000 Menschen in Belarus festgenommen. Die meisten bekamen Geldstrafen oder bis zu 15 Tage Haft für die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration. Nun greift das Regime härter gegen die Protestierenden durch. Immer mehr Menschen werden wie Hersche strafrechtlich verfolgt und bekommen unangemessen hohe Strafen, unter anderem mehrere Jahre Lagerhaft. So wurden mehrere Aktivisten zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie oppositionelle Parolen auf einen Straßenbelag geschrieben hatten; ein weiterer Demonstrant erhielt viereinhalb Jahre Haft, weil er einem Polizisten ein Bein gestellt hatte.

In ihrem Schlusswort vor Gericht sagte Hersche, dass sie in einem demokratischen europäischen Land lebe, in dem die Redefreiheit und die Versammlungsfreiheit gewährleistet seien. Sie hoffe, dass auch Belarus so ein Land werde. Ihr Lebensgefährte Robert Stäheli erzählt, dass Hersche von der direkten Demokratie in der Schweiz beeindruckt war. In ihrem Heimatort St. Gallen wird bei  Versammlungen über wichtige Gemeindefragen per Handzeichen abgestimmt.

"Sich wegducken ist nicht ihre Art"

"Sie steht auf. Sie hat schon Angst, aber sie läuft weiter, wenn sie Angst hat. Sie zieht sich nicht zurück. Sich wegducken ist nicht ihre Art", beschreibt Stäheli seine Freundin. Er ist in Kontakt mit der Menschenrechtsorganisation Libereco und der belarussischen Diaspora in der Schweiz. Zusammen organisierten sie bereits mehrere Solidaritätskundgebungen für Natallia Hersche in Bern und Zürich. "Wir möchten, dass das Thema weiterhin im Fokus der Medien und der Behörden in der Schweiz bleibt", sagt Sviatlana Disler vom Verein "Razam.ch", der die Kundgebungen mitorganisiert.

Unterstützung in der Schweiz

Natallia Herrsche besitzt neben der belarussischen auch die schweizerische Staatsangehörigkeit. Nicht nur der Unterstützerkreis in der Schweiz, sondern auch die Schweizerische Botschaft in Minsk setzen sich für sie ein. Botschafter Claude Altermatt war bei den Gerichtsverhandlungen anwesend und besuchte Hersche in Haft. Auch der schweizerische Außenminister Ignazio Cassis forderte ihre Freilassung.

"Die Schweiz kann offiziell ihr Bedauern über das Urteil äußern, nicht aber juristisch dagegen vorgehen", so das Eidgenössische Department für auswärtige Angelegenheiten (FDFA) gegenüber der Deutsche Welle. Das Schweizer Außenministerium und die Rechtsanwältin von Frau Hersche behielten sich jedoch weitere Schritte vor.

Hersche: Das ist mein Weg

Unterdessen war Natallia Hersche seit ihrer Verhaftung am 19. September bereits in drei verschiedenen Haftanstalten. Im Gefängnis in Schodino zeichnete sie mit Bleistift Porträts ihrer zwölf Mitinsassinnen. Ihr Bruder Gennadij Kassjan, der diese Bilder erhielt, sagt: "Jede von ihnen hat ihre eigene Geschichte." Er ist sich sicher, dass seine Schwester die schlechten Bedingungen in Haft tapfer überstehen wird. Sie sei fasziniert von den Frauenprotesten in Belarus gewesen und möchte, dass ihre Geschichte noch mehr Menschen in Belarus Mut macht, sich gegen das Regime von Alexander Lukaschenko zu stellen. "Das ist mein Weg und ich werde ihn gehen", habe sie immer gesagt.

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