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"Belarus kann ein sehr konstruktiver EU-Nachbar werden"

16. September 2004

– DW-Interview mit Gabriele Kötschau, Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags und Mitbegründerin des Solidaritätskomitees Belarus

Bonn, 16.9.2004, DW-RADIO / Ukrainisch, von Ute Schaeffer

Frage:

Lukaschenka hat vor kurzem angekündigt, dass er die Parlamentswahl am 17. Oktober verknüpft mit einem Referendum darüber, ob die Begrenzung seiner Amtszeit als Präsident aufgehoben wird. Ist Lukaschenka die Zustimmung zum Referendum sicher?

Antwort:

Also, wenn man verfolgt, auch das Rating des Präsidenten, da muss man doch sehen, dass es große Schwankungen gibt und dass es sehr nach unten geht. Es gibt viele Menschen, die sagen, es wird immer schwerer für uns zu leben, die Preise steigen, die Löhne nicht. Die Situation für die Menschen wird nicht einfacher. Eine Schule ist geschlossen worden, die unabhängig gewesen ist und die Schüler zur Kritik erzogen hat. Die Europäische Humanistische Universität (EHU) ist geschlossen worden. Zeitungen werden geschlossen. Viele Nicht-Regierungs-Organisationen werden nicht registriert. Parteien haben zunehmend Schwierigkeiten. Das sind natürlich alles Dinge, die zeigen, dass eine offene kritische Gesellschaft hier, so wie wir sie uns vorstellen, es schwer hat. Von daher gibt es im Grunde in dem Bereich der jungen Menschen und der kritischen Menschen, der Stadtbewohner immer weniger Zustimmung zum jetzigen Präsidenten. So dass ich mir vorstellen kann, dass es da viel Gegenstimmen gibt.

Auf dem flachen Land sehe ich das etwas anders. Das hat zum Teil natürlich mit den Informationsmöglichkeiten zu tun. Die Menschen erhalten einseitige Informationen. Aber auch dort sehe ich schon mehr und mehr, dass es auch aufgrund der Lebensumstände, Lebenshaltungskosten schwieriger wird. Da könnte ich mir allerdings vorstellen, dass die Zustimmung für eine erneute Kandidatur des Präsidenten, dessen Amtszeit dann nicht mehr auf eine Wahlperiode begrenzt ist - dass es diese Zustimmung geben wird. Insgesamt ist es aber schwer zu sagen. Wenn das Referendum sauber und völlig transparent und offen und ohne Fälschungen abläuft, dann kann ich mir vorstellen, dass die Mehrheit dagegen stimmt. Aber es ist sehr schwer zu beurteilen.

Frage:

Wir haben in der Ukraine, wie in Belarus, immer wieder die Erfahrung gemacht, dass man den Wahlprozess administrativ steuert und ganze Wählergruppen einfach gemeinsam zur Wahl führt. Das betrifft militärische Einheiten oder Studenten. "Administrative Ressourcen" werden diese Gruppen genannt. Wie groß, meinen Sie, wird der Einfluss dieser administrativen Ressourcen bei der nächsten Wahl sein?

Antwort:

Ich habe bei der letzten Wahl gesehen, dass die insofern sehr groß war, dass es einen sehr hohen Prozentsatz gab der Leute, die die sogenannte vorzeitige Wahl in den vier Tagen vor dem Wahltermin in Anspruch genommen haben. Was mit diesen Boxen nach den vorzeitigen Wahlen passiert, in diesen vier Tagen vor der eigentlichen Wahl, das ist für uns sehr schwer zu beurteilen. Da ist natürlich vieles denkbar. Am Wahltag selbst machen die Leute natürlich da ihr Kreuzchen in der Kabine, wo es niemand sieht.

Frage:

Sollte Lukaschenka jetzt die Möglichkeit auf eine Amtszeit auf Lebenszeit bekommen, was bedeutet dies für die europäische Politik gegenüber Belarus?

Antwort:

Was Lukaschenka jetzt nicht erreichen kann, ist eine Amtszeit auf Lebenszeit, sondern die Wahlen finden in den bisherigen Abständen statt. Es geht nur darum, die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Wahlperioden praktisch aufzuheben. Das ist im Grunde nichts, was wir vom Westen aus negativ zu kommentieren hätten, denn auch bei uns ist so etwas natürlich möglich. Auch unser Bundeskanzler kann zehn Mal kandidieren, wenn wer will. Andere Präsidenten können es auch. Wir haben nur eben dieses Korrektiv, dieses "Checks and Balances", wir haben die gegenseitige Kontrolle der Gewalten, dass nicht eine Gewalt übermächtig wird. Und das ist eben das, was in diesem Land fehlt, das heißt beispielsweise: erweiterte Kompetenzen des Parlaments, dass dieses Parlament wirklich Kontrollfunktionen hat und wirklich ein Gegengewicht ist. Das Gleiche gilt für eine unabhängige Justiz und natürlich auch für die vierte Gewalt, die Medien, daran müssen wir arbeiten. Ich sag's mal konstruktiv, da können wir natürlich auch versuchen, noch viel stärker - durch Beratungen, durch Auslandserfahrungen der Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, durch eine intensivere Kooperation der Parlamente - Einfluss zu nehmen, um das Prinzip der Gewaltenteilung in Belarus stärker ins Bewusstsein zu bringen.

Frage:

Belarus gehört zu den osteuropäischen Staaten, die eine grundlegende Reform der OSZE wollen. Diese Länder haben eine Diskussion darüber angestoßen, nach welchen Standards und Normen die OSZE die politische Entwicklung in einzelnen Staaten beurteilt. Für wie gefährlich halten Sie eine solche Diskussion?

Antwort:

Die OSZE ist eine Wertegemeinschaft und sie erwartet gewisse Standards. Was in Belarus immer wieder angemahnt wird, und in einigen Fällen auch zu Recht, ist, dass mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird. Wenn wir ganz glaubwürdig sein wollen, das sage ich jetzt sehr kritisch in unsere Richtung, dann müssen wir diese harten Maßstäbe, die die OSZE durchaus anlegen sollte, bei allen Ländern anlegen. ...Wenn wir sagen, wir sind eine Wertegemeinschaft und halten dies hoch, dann bitte auch für alle. Wir bleiben nur glaubwürdig, wenn wir auch tatsächlich das, was wir von Belarus verlangen - und auch zu Recht verlangen - aber dann auch von anderen verlangen.

Ich sage auch sehr offen, dass ich über diese EU-Politik dem Land gegenüber nicht glücklich bin. Ich halte mehr davon, wenn der Minister für XY seinem Minister-Kollegen in Belarus auch deutlich sagt, weshalb wir Probleme haben mit seinem Land, was wir uns wünschen. Das man ganz klar sagt, mit ihnen spricht und nicht über sie. Ich halte viel mehr davon, wirklich ganz konkret und ganz offen miteinander zu reden, als immer nur über das Land zu reden und es sitzt nicht mit am Tisch.

Frage:

Aber das bedeutet, Sie wären für Kontakte auf Regierungsebene, die ja bisher weitgehend eingeschränkt sind?

Antwort:

Ja, ich bin offen für Regierungskontakte. Ich bin absolut dafür, dass Regierungskontakte aufgenommen werden. Das heißt nicht, dass ein roter Teppich ausgelegt wird. Das bedeutet, dass die Kontakte, wie sie auch zwischen der EU und anderen Staaten bestehen, die ja auch nicht alle nur die Demokraten in Person sind und die demokratischen Staaten par excellence, das schlichtweg die Gespräche mit diesem Land geführt werden und nicht über dieses Land. Damit bricht uns kein Zacken aus der Krone, ganz im Gegenteil. Ich denke, dass wir eher zu einer gemeinsamen Sprache kommen, wenn wir miteinander reden, als wenn wir eine Politik des Übereinanderredens, anstatt einer Politik des Miteinander-Redens pflegen.

Frage:

Deutsche Kommentatoren bezeichnen Belarus häufig als letzte Diktatur in Europa. Stimmen Sie dem zu und kann sich Europa einen solchen Nachbarn leisten?

Antwort:

Ich stimme der Bewertung nicht zu, dass Belarus "die letzte Diktatur" in Europa ist. Eine Diktatur ist etwas anderes. Eine Diktatur ist eine sehr straffe Organisation, in der vieles überhaupt nicht möglich ist. Es ist hier ganz viel möglich in diesem Land. Man kann es eine Willkürherrschaft nennen, aber eine Diktatur nenne ich es nicht und würde es auch nicht so bezeichnen.

Was den "Nachbarn" Belarus angeht. Er ist, aus den von ihnen schon angesprochenen Gründen, sicherlich ein schwieriger. Auf der anderen Seite kann es ein sehr konstruktiver Nachbar werden, natürlich unter der Vorraussetzung, dass es eine Verlässlichkeit auch in der Regierungspolitik gibt, natürlich auch eine Verlässlichkeit den Partnern gegenüber.

Was wir bemängeln ist zum Beispiel der Bruch diplomatischer Verträge, wie damals der Rauswurf der Botschaft aus ihren Residenzen. Solche Sachen, das geht nicht, man muss mal eine gewisse Grundlage haben, Standards müssen eingehalten werden. Man braucht einfach eine Verlässlichkeit des Partners. Aber diese EU-Erweiterung an den Grenzen von Belarus, ist eine Riesen-Chance für das Land.

Dieses Land war eines der Wissenschafts- und Montagezentren der Sowjetunion. Es ist sehr viel an Potenzial vorhanden. Die Menschen sind sehr geduldig, sie sind sehr motiviert, sie haben einen hohen Ausbildungsstand, der hoffentlich so bleibt. Es gibt sehr viel Positives, es ist ein kleines überschaubares Land, in dem es bei weitem nicht die Korruption gibt, wie in anderen Ländern. Es gibt sehr gute Vorraussetzungen. Als Deutsche muss ich sagen, dieses Land liebt uns, nach all dem was wir angerichtet haben, was der Hitler-Faschismus in diesem Land angerichtet hat, muss ich sagen, ist es ein sehr hohes Gut, dass wir ein solches Standing haben und eine solche Wertschätzung in diesem Land erfahren. Das heißt, es gibt ganz viel Positives und die EU-Erweiterung kann durch viele grenzüberschreitende Kooperationen, durch eine Verlagerung auch des Arbeitsmarktes, durchaus eine große Chance für dieses Land bieten. Und wenn ich den Regierenden in diesem Land eine Anregung geben dürfte, würde ich sagen: Nutzt die Chance der EU-Erweiterung, öffnet euer Land der EU, ihr seid ein Land, mit dem wir wunderbar arbeiten können. Lasst die Erweiterung nicht zu einem Risiko, sondern zu einer Chance für Euch werden! (MO)