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Politik

Luftholen vor der Massendemo

Nick Connolly Minsk | Uta Steinwehr
22. August 2020

Sonntag soll der vorläufige Höhepunkt der Proteste in Belarus für freie Wahlen und den Rücktritt des Präsidenten Lukaschenko sein. Es bleibt die Sorge vor neuer Gewalt durch den Staat. Ein Stimmungsbild aus Minsk.

Demonstrantin in Minsk mit einer Flagge von Belarus
Demonstranten in Minsk auf dem Unabhängigkeitsplatz am 20. AugustBild: picture-alliance/dpa/V. Sharifulin

In den vergangenen Tagen ist es ruhiger in Belarus geworden. Wobei ruhig eigentlich der falsche Ausdruck ist. Denn noch immer gehen Tag für Tag Tausende Menschen auf die Straße, fordern freie Wahlen. Bereits seit fast zwei Wochen geht das so. Seit der Wahl vom 9. August, bei der Alexander Lukaschenko nach Darstellung der Wahlbehörde mit 80 Prozent der Stimmen zu seiner sechsten Amtszeit als Präsident gewählt wurde.

 "Hau ab", "geh weg", lauten die Sprechchöre der Demonstranten gegen Lukaschenko. Und "jeden Tag" - die eindeutige Ansage, dass sie nicht nachgeben und jeden Tag weiter demonstrieren werden. Sie halten als Zeichen des friedlichen Protests Blumen in die Luft, schwenken die weiß-rot-weißen Flaggen, die nach der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion bis 1995 die offiziellen Fahnen waren und heute von der Opposition genutzt werden.

Friedlich und mit Musik demonstrieren die Menschen für mehr FreiheitBild: picture-alliance/dpa/V. Sharifulin

Am Freitag bildeten die Demonstranten eine Menschenkette vor dem Gefängnis Okrestino, in das vorige Woche viele der festgenommenen Demonstranten gebracht und brutal misshandelt wurden. Die Menschenkette erstreckte sich quer durch die die Hauptstadt Minsk bis zum Mahnmal für die Opfer des Stalinismus - ein bewusst gewähltes Symbol. Die Teilnehmer hielten Bilder verletzter Regierungskritiker hoch, reckten ihre zur Faust geballten Hände empor und zeigten das Victory-Zeichen. Vorbeifahrende Autofahrer unterstützten sie mit einem Hupkonzert.

Menschenkette quer durch Minsk aus Solidarität für die Opfer der PolizeigewaltBild: Getty Images/M. Friedman

Trotz der verschiedenen Aktionen wirkten die vergangenen Tage wie ein Luftholen vor der angekündigten Großdemonstration am Sonntag. Es könnte die größte werden, die Belarus seit seiner Unabhängigkeit erlebt hat. Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja rief aus ihrem Exil in Litauen die Menschen auf, sich an dem Marsch für die Freiheit und ein neues Belarus zu beteiligen.

Wie reagiert der Staatsapparat?

Aus allen Teilen des Landes werden Teilnehmer erwartet. Doch die Sorge geht um, dass die Regierung versuchen wird zu verhindern, dass diese Menschen bis nach Minsk kommen. In der Vergangenheit wurden unter anderem Straßen nach Minsk ohne Erklärung gesperrt und bei Straßenkontrollen wurden Fahrzeugpapiere ausführlich geprüft - alles, um die Anreisenden aufzuhalten. Außerdem wurden Orte mit Bauzäunen wegen angeblich spontaner Bauarbeiten abgesperrt, um der Opposition so den Raum für Versammlungen zu nehmen.

Immer präsent: Polizisten am Rande eines Protestes am Donnerstag in MinskBild: Reuters/V. Fedosenko

Die Gewalt gegen Demonstranten hat allerdings nachgelassen. Zuletzt richteten sich die Einschüchterungsmaßnahmen des Regimes gegen Streikanführer und führende Oppositionelle.

Zwar sind in der Stadt immer wieder die schwarzen Lastwagen der Polizei zu sehen, in denen festgenommene Demonstranten abtransportiert werden. Doch am Unabhängigkeitsplatz, dem zentralen Treffpunkt der Demonstranten am Abend, sind Sicherheitskräfte in Schutzausrüstung in den vergangenen Tagen kaum präsent. Die Demonstranten vermuten, dass sich Polizei und Geheimdienst in Zivil unter die Proteste mischen.

Und doch ist die Stimmung gelöster. Während früher die Menschen Fremden kaum Vertrauen schenkten, antworten sie nun bereitwillig auf die Fragen ausländischer Journalisten. "Die einzige Quelle der Staatsmacht ist das Volk - Artikel 3 der belarussischen Verfassung", steht auf dem Schild, das zwei Frauen am Freitagabend zum Unabhängigkeitsplatz mitgebracht haben.

Sie protestieren, weil sie das Gefühl haben, nicht genug Freiheiten zu haben. "Wir können nicht sagen, was wir fühlen. Wir können nicht sagen, was wir denken", sagt die eine zur Deutschen Welle. "Was jetzt hier passiert, war vor einer Woche nicht möglich. Wir wären alle im Gefängnis. Jetzt ist es möglich, und wir wollen das jeden Tag so haben." Beide glauben, die Proteste seien jetzt so erfolgreich, weil friedlich protestiert werde. Deswegen würden auch so viele Menschen teilnehmen

DW-Korrespondent Nick Connolly im Gespräch mit Demonstranten auf dem UnabhängigkeitsplatzBild: DW

Auch wenn gerade in Minsk bei den Demonstranten die jungen Menschen in der Überzahl sind - es nehmen bei weitem nicht nur die "Hipster in den Großstädten" oder die "verwöhnte Mittelschicht" an den Protesten teil, wie es das Regime behauptete. Lukaschenko versuchte, die Demonstranten zu diskreditieren, und erklärte, diese würden aus dem Ausland finanziert. Die Demonstranten reagierten prompt: "Gebt mir endlich mein Geld für die Protestteilnahme", schrieben einige in Anspielung darauf auf ihre Schilder.

Angst vor neuer Gewalt

Doch nicht alle werden an der Demonstration am Sonntag teilnehmen, selbst wenn sie gegen Lukaschenko sind. "In naher Zukunft werde ich nirgendwo hingehen", antwortet der 25-jährige Georgii auf die Frage, ob er wieder protestieren werde. Die DW traf ihn abseits der Kundgebungen und nennt aus Sicherheitsgründen nicht seinen Nachnamen.

Nach seiner Entlassung sind die Spuren der Misshandlung deutlich auf Georgiis Körper zu sehenBild: privat

Sein Körper ist noch immer übersät von Hämatomen. Sie stammen von Schlägen der Polizisten, wie er berichtet. Am Wahltag vor zwei Wochen war er auf der großen Anti-Regierungsdemonstration. Am nächsten Tag schaute er einer kleineren Demonstration zu, stand auf der anderen Straßenseite.

Plötzlich kamen die Lastwagen der Polizei, Sicherheitskräfte griffen wahllos Leute auf, zerrten sie in die Autos und schlugen zu. Drei Tage verbrachte Georgii im Gefängnis Okrestino. Vor der Entlassung wurden alle Häftlinge noch einmal ausgezogen: Wer noch nicht blau genug geschlagen war, der bekam einer weitere Tracht Prügel, erzählt Georgii. Er selbst wurde verschont.

Zwar lassen sich seine Angaben nicht unabhängig überprüfen, doch decken sie sich mit den Erlebnissen anderer.

"Diese Regierung hat gezeigt, dass sie vor nichts Halt macht", sagt der junge Mann. Dass gerade nicht mehr so viele Menschen festgenommen werden, führt Georgii darauf zurück, dass die Regierung die Zeit nur nutzt, um sich neu aufzustellen. "Ich glaube, es wird härter. Ich glaube nicht, dass Menschen, die zu solchem Sadismus fähig sind, sich plötzlich ändern." Georgii ist überzeugt: Es wird eine zweite Gewaltwelle geben.

Dieser Demonstrant glaubt, dass die Regierung wieder Gewalt einsetzen wird - er sei daran "gewöhnt"Bild: DW

Der belarussische Staatsanwalt Alexander Konjuk kündigte inzwischen an, dass die Teilnahme an den Protesten am Sonntag illegal sei. Der Minsker Bürgermeister Anatoli Siwak nannte die Teilnahme ebenfalls "unzulässig". Ob diese Verbote die Bevölkerung nur einschüchtern sollen oder der Staatsapparat diese Ansage durchsetzt, wird sich am Sonntag zeigen.

Bei einem Auftritt in der Stadt Grodno ließ Lukaschenko nun durchblicken, dass ab Montag durchgriffen wird. Am Freitag erklärte der Präsident, er werde die politische Krise in seinem Land "in den kommenden Tagen" beilegen. Die Frage bleibt nach dem Wie.

"Die Regierung wird natürlich Gewalt einsetzen", ist sich ein junger Demonstrant sicher, mit dem die DW am Freitagabend auf dem Unabhängigkeitsplatz sprach. "Ich bin daran gewöhnt. Es ist hart zu sagen: 'Man ist daran gewöhnt.' Aber ich bin bereit dafür."

Dieser Artikel wurde nach der Veröffentlichung aktualisiert.

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