Gegenwind für Reformpolitik
6. November 2014"Wir sind nicht zufrieden", skandieren ein paar junge Frauen in Rot im Demonstrationszug auf Französisch, andere plakatieren ihren Unmut mit der Regierung von Charles Michel auf Englisch: "Social Killer" muss sich der frisch gebackene Premier da nennen lassen. Kaum einen Monat im Amt, bekommt der Liberale bereits den Gegenwind der sozialen Unzufriedenheit zu spüren. Die drei großen belgischen Gewerkschaften, kenntlich an ihren Flaggen und Hemden in Rot, Grün, Blau, haben zum Protestmarsch durch Brüssel aufgerufen, und rund 100.000 Belgier aus allen drei Landesteilen sind gekommen.
Nicht nur die Frankophonen, die in dieser Mitte-Rechts-Koalition unterrepräsentiert sind, sondern auch Flamen und deutschsprachige Eupener nehmen an dem Marsch teil, der sich am Mittwoch vom Brüsseler Gare du Nord durch die Innenstadt gewälzt hat. Im Ausstand sind Bus- und U-Bahn-Fahrer, Lehrer und andere öffentliche Bedienstete, sowie Beschäftigte einiger Industriezweige. Ausnahmsweise sind die sonst streikfreudigen belgischen Bahnbediensteten nicht dabei: Im Gegenteil, die Bahngesellschaft SNCB hat sogar Sondertarife angeboten, damit die Streikwilligen preiswert zur Demonstration kommen können. Der Bahnchef musste sich deswegen schon gegen Vorwürfe der Regierung verteidigen. Das sei doch nichts anderes, als sonst bei Großveranstaltungen, etwa der Thronbesteigung des Königs oder der Tour de France, argumentierte er.
Sparpolitik sorgt für Unmut
Im Zentrum der Proteste steht die Sparpolitik der neuen Regierung. Das Mitte-Rechts-Bündnis will in den nächsten Jahren rund elf Milliarden Euro vor allen durch Ausgabenkürzungen sparen und bis 2018 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Das Problem Belgiens ist dabei nicht die Neuverschuldung, wie etwa im benachbarten Frankreich, sondern die angehäufte Staatsverschuldung von fast 105 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die nach den europäischen Regeln unbedingt abgebaut werden muss.
Die Regierung will das mit ähnlichen Maßnahmen schaffen, wie sie auch in anderen europäischen Ländern bereits umgesetzt oder geplant sind: Das Rentenalter steigt schrittweise auf 67 Jahre, die automatischen Lohnsteigerungen per Index werden vorläufig ausgesetzt, einige Verbrauchssteuern sollen steigen. Insgesamt versucht die Regierung in Brüssel die Wettbewerbsfähigkeit der belgischen Wirtschaft zu steigern: Das Land gehört zu den Staaten mit den höchsten Lohnkosten in Europa.
Gewerkschaften planen "heißen Winter"
Die belgischen Gewerkschaften sind wütend, weil sie nicht an den Tisch gebeten wurden, um über die sozialen Einschnitte zu beraten, die unter anderem auch das Gesundheitswesen treffen sollen. Und auch die oppositionelle sozialistische Partei stellt sich hinter die Proteste. "Es gibt Alternativen zu dieser Politik, aber man hört nicht auf die Arbeiter. Man könnte die Kürzungen viel gerechter machen", sagt Laurette Onkelinx. Die in ganz Europa bekannte Klage lautet jetzt auch in Belgien: "Die Armen werden immer ärmer und die Reichen reicher".
Die Großdemonstration soll nur der Anfang einer längeren Protestwelle sein. Für den 15. Dezember haben die Gewerkschaften einen Generalstreik angekündigt. Die neue Regierung Michel kommt damit schon unter Druck, bevor sie ihre eigene Stabilität testen konnte. Bereits bei Amtsantritt kursierte das Wort von der "Kamikaze Koalition", weil entgegen der langjährigen Praxis in Belgien kein breites Bündnis der großen Parteien, sondern nur Politiker aus dem Mitte-Rechts-Spektrum vertreten sind, und auch die wichtige Balance zwischen Flamen und Frankophonen nicht stimmt.
Streikfreude in Europa
Wenn also Belgien ein "Winter der Unzufriedenheit" bevorsteht, reiht sich das Land damit jetzt in die Kette der europäischen Länder ein, wo Sparpolitik zu sozialer Unruhe geführt hat. Irland, Portugal, Spanien und besonders Griechenland haben in unterschiedlicher Intensität Proteste gegen Ausgabenkürzungen und soziale Einschnitte erlebt.
Während die Bewegung in einigen dieser Länder vorübergehend abgeflaut ist, erlebt Frankreich derzeit eine neue Blüte seiner traditionellen Streikkultur. Dort gehen pro 1000 Beschäftigte rund 150 Tage im Jahr durch Streiks verloren. Die Fluggesellschaft Air France erlebt seit Monaten punktuelle Streiks der Piloten. Sie kämpfen vor allem gegen die Einführung einer Billig-Airline, die mit niedrigeren Tarifen auf dem europäischen Markt wettbewerbsfähiger sein soll. In Frankreich sind in diesem Jahr aber auch schon Notare, Gerichtsvollzieher und sogar Rechtsanwälte auf die Straße gegangen, um gegen die Reformen der französischen Regierung zu protestieren, ebenso wie Lehrer und Bahnpersonal. Was Streiks angeht, liegt Deutschland im europäischen Vergleich mit nur 16 Tagen pro Jahr auf 1000 Beschäftigte am unteren Ende.