Angriff auf Belgien
22. März 2016Die belgische Staatsanwaltschaft veröffentliche ein Foto, auf dem drei Männer mit Gepackwagen zu sehen sind. Zwei davon tragen schware Kleidung. Sie sollen sich als Selbstmordattentäter in der Abflughalle des Brüsseler Flughavens Zaventem am Morgen in die Luft gesprengt haben. Der dritte Mann in weiß lebt offenbar und soll auf der Flucht sein. Nach ihm wird jetzt gefahndet. Seinen Namen wissen die Ermittler offenbar noch nicht. In mehreren Stadtteilen Brüssels laufen Durchsuchungen von Häusern und Wohnungen. Nähere Angaben zu den weiteren Ermittlungen will die Staatsanwaltschaft nicht machen und bat die Medien, keine unbestätigten Spekulationen zu verbreiten. Das Foto wurde von Überwachungskameras auf dem Flughafen aufgenommen.
Blutbad in der Metro
Die Rettungskräfte an der U-Bahn-Station Maelbeek brauchten mehrere Stunden, um alle 20 Toten und die zahlreichen Verletzten aus dem geborstenen U-Bahnwagen und vom Bahnsteig zu bergen. Sie wurden auf dem Bürgersteig der abgesperrten fünf-spurigen Hauptverkehrsstraße und im Restaurant eines nahen Hotels versorgt, bevor sie in Krankenhäuser abtransportiert werden konnten. Das EU-Viertel rund um die Station Maelbeek wurden den ganzen Tag über von Polizei und Militär weiträumig abgeriegelt. Tausende Angestellte der EU-Kommission und des Europäischen Rates mussten in ihren Büros bleiben. Die Straßen waren gespenstisch leer. Ab und an raste eine Ambulanz oder ein Polizeiwagen vorbei. Erst am späten Nachmittag durften die Menschen ihre Büros und Wohnungen wieder verlassen, um nach Hause zu gehen.
Vielen standen tatsächlich längere Fußmärsche bevor, denn weder U-Bahnen, Busse noch Straßenbahnen fuhren in Brüssel. Der S-Bahn-Verkehr in einigen Vororten wurde eingeschränkt wieder aufgenommen. Der internationale Bahnverkehr nach Frankreich oder Deutschland wurde stark ausgedünnt. In ganz Belgien gilt die höchste Terrorwarnstufe Vier, was die Schließung von Schulen und öffentlichen Einrichtungen zur Folge hat. Der belgische Premierminister rief seine Landsleute während einer kurzen Pressekonferenz auf, Ruhe zu bewahren und zu Hause zu bleiben.
Flughafen verwüstet
Wann der Betrieb am Flughafen Zaventem wieder aufgenommen werden kann, ist noch nicht entschieden. Am Mittwoch bleibt er auf jeden Fall geschlossen, gab die Flughafenbehörde bekannt. 600 Flüge wurden gestrichen. In Zaventem hatten am Morgen zwei Bomben die Abflughalle verwüstet, mindestens zehn Menschen in den Tod gerissen und Dutzende zum Teil schwer verletzt. Teile der Deckenverkleidung stürzten ein. Die gläserne Fassade zersplitterte. Die schockierten Reisenden verließen die verrauchten Gebäude des Flughafens so schnell sie konnten. Die Räumung des riesigen Geländes dauerte mehrere Stunden. Alle Starts wurden abgesagt. Ankommende Maschinen wurden bis nach Deutschland umgeleitet.
Die Staatsanwaltschaft geht von mindestens einem Selbstmordattentäter in der Schalterhalle aus. Der hatte, bevor er seinen Sprengstoffgürtel zündete, nach Augenzeugenberichten auf Arabisch gerufen: "Allah ist groß". Premierminister Charles Michel geht von islamistischen Terroranschlägen aus. Michel verurteilte die "Barbarei" der Terroristen. "Wir werden unsere Freiheit verteidigen", versprach der Premier seinen Landsleuten während einer Pressekonferenz. Mittlerweile soll sich die Terrororganisation "Islamischer Staat" zu der Anschlagserie bekannt haben. Die Echtheit des Bekennerschreibens wollte die Staatsanwaltschaft am Abend noch nicht bestätigen.
Die zweite Bombe in Zaventem war offenbar in Gepäckstücken versteckt. Eine dritte Bombe konnte rechtzeitig gefunden werden, bevor sie detonierte. Außerdem wurde auf dem Flughafen ein weiterer Sprengstoffgürtel und ein Kalaschnikow-Gewehr gefunden. Das legt nach Angaben von belgischen Sicherheitsexperten die Vermutung nahe, dass ein oder mehrere Täter auf der Flucht sind.
Auch ein U-Bahn-Täter auf der Flucht?
Ob es sich bei dem Anschlag auf die U-Bahn auch um einen Selbstmordattentäter handelt, wird noch geprüft. Am Tatort laufen forensische Untersuchungen. Die Gerichtsmediziner bemühen sich außerdem, die zum Teil schwer verstümmelten Leichen zu identifizieren. Belgische Medien veröffentlichen grausame Bilder von abgetrennten Gliedmaßen, schreienden Kindern und verqualmten U-Bahn-Schächten, die Passagiere mit ihren mobilen Telefonen aufgenommen hatten. Ein Arzt der Notaufnahme eines nahe gelegenen Krankenhauses berichtete, die Opfer hätten Verletzungen, die auf die Verwendung einer mit Metallsplittern gespickten Bombe hinwiesen.
EU-Institutionen geschlossen
Die Bombenexplosion in der U-Bahn war auch in den umliegenden Gebäuden zu spüren. Um 9.11 Uhr waren bereits Tausende von Angestellten der Europäischen Institutionen an ihren Arbeitsplätzen. Die Zentrale der EU-Kommission ist nur 300 Meter vom Tatort entfernt. Auch der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, konnte seinen Arbeitsplatz aus Sicherheitsgründen nicht verlassen. Er telefonierte mit europäischen Spitzenpolitikern, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, um sie über die Lage in Brüssel auf dem Laufenden zu halten. "Das war ein Angriff auf Belgien, aber ganz Europa ist das Ziel", sagte der französische Staatspräsident Francois Hollande in Paris. Frankreich, Deutschland und die Europäische Union senkten aus Trauer alle Flaggen auf Halbmast.
Einen Zusammenhang zwischen der Terrorwelle in Brüssel und der Festnahme des mutmaßlichen Attentäters Salah Abdeslam am vergangenen Freitag im Brüsseler Stadtteil Molenbeek konnte Belgiens Premierminister Charles Michel nicht bestätigen. Der "IS"-Terrorist Abdeslam war nach den Attentäten in Paris nach Brüssel geflohen und hatte sich in verschiedenen konspirativen Wohnungen vier Monate versteckt halten können. Belgien gilt in Ermittlerkreisen schon seit Jahren als Rekrutierungsgebiet und Unterschlupf für islamistische Terroristen. Aus dem Umfeld von Abdeslam sollen weitere dringend Tatverdächtige der Anschläge von Paris auf der Flucht sein.
Trotz der höchsten Terrorwarnstufe wird an den Schulen in Brüssel am Mittwoch Unterricht erteilt. Lediglich die Kindertagesstätten würden schließen, teilten die Behörden mit. Die Sicherheitsvorkehrungen an den beiden belgischen Atomkraftwerken wurden erhöht. Die Grenzkontrollen der belgisch-französischen Grenze wurden verschärft, teilte das belgische Innenministerium mit. Am Abend wandte sich der König der Belgier, Philippe, in einer seltenen Fernsehansprache an sein Volk und die Familien der Opfer: "Königin Mathilde und ich fühlen Euren Schmerz."