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Bereitet Russland den Austausch politischer Gefangener vor?

Juri Rescheto Riga | Alexey Strelnikov
31. Juli 2024

"Verschwunden", "abgereist", "vermisst": In Russland gibt es seit Tagen eine Kontaktsperre zu mehreren politischen Gefangenen. Spekulationen über einen groß angelegten Gefangenenaustausch nehmen zu.

Russland Opposition Xenia Fadejewa vor einem Wahlplakat im August 2020 in Russland
Russische Opposition hinter Gittern: Xenia Fadejewa, Mitstreiterin des verstorbenen Kremlkritikers Nawalny, wurde 2023 zu neun Jahren Haft verurteiltBild: Andrei Fateyev/Alexei Navalny's team/AP/picture alliance

In Russland haben sieben politische Gefangene seit Tagen den Kontakt zur Außenwelt verloren. Weder ihre Anwälte noch ihre Familien wissen, wo sie sich aufhalten.

Betroffen sind die Regimekritiker Wladimir Kara-Mursa, Ilja Yaschin, Alexandra Skotschilenko, Oleg Orlow, Lilija Tschanyschewa, Xenia Fadejewa und Kevin Lick. 

In den jeweiligen Justizvollzugsanstalten, in denen die sieben bisher einsaßen, heißt es, sie seien "an einen unbekannten Ort abgereist", berichten russische Medien.

Die von der DW befragten Experten weisen darauf hin, dass derartige "Abreisen" in der Geschichte des modernen Russlands noch nie vorgekommen seien. Sie vermuten die Verlegung an einen anderen Ort oder die Vorbereitung eines Gefangenenaustauschs mit im Westen inhaftierten russischen Staatsbürgern.

Lilija Tschanyschewa, Wegbegleiterin des verstorbenen Oppositionellen Nawalny, vor einem Gericht in der russischen Stadt UfaBild: Kirovsky district court of Ufa press-service/AFP

"Aufruf zum Terrorismus"

Als erste wurde Lilija Tschanyschewa als "vermisst" gemeldet. Tschanyschewa ist die ehemalige Leiterin des Wahlstabs des inzwischen verstorbenen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny in Ufa. Sie wurde 2021 zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Als Tschanyschewas Ehemann Almaz Gatin versuchte, ein Paket für seine Frau in der Strafkolonie abzugeben, musste er erfahren, dass Tschanyschewa am 26. Juli in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt worden war.

Almaz Gatin, Ehemann der inhaftierten Regimekritikerin Lilija Tschanyschewa, geht an der Mauer des Moskauer Untersuchungsgefängnisses vorbei, wo seine Frau inhaftiert war Bild: Marianna Antonowa

2024 erhöhte ein Gericht die Strafe für Tschanyschewa auf neuneinhalb Jahre. Sie wurde zusätzlich des "Aufrufs zum Terrorismus" beschuldigt. Die Aktivistin reichte ein Begnadigungsgesuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin ein.

"In unbekannte Richtung abgereist"

Unklar ist bisher auch der Aufenthaltsort von Xenia Fadejewa. Wie Tschanyschewa wurde auch sie wegen "Organisation einer extremistischen Gemeinschaft" - gemeint war Nawalnys Wahlstab in Tomsk - zu neun Jahren Haft verurteilt.

Die Anwälte von Alexandra Skotschilenko versuchten ebenfalls vergebens, den Kontakt zu ihrer Mandantin herzustellen. Die Künstlerin verbüßt eine siebenjährige Haftstrafe wegen "Falschmeldungen" über die russische Armee. Im Gefängnis verschlimmerten sich ihre chronischen Leiden: bipolare affektive Störung, Darmkrankheit Zöliakie und Herzfehler.

Der russische Oppositionpolitiker Ilja Yaschin im DW-Interview im Juli 2021 vor seiner VerhaftungBild: DW

Der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der sich in der Strafkolonie Nummer 3 in der Region Smolensk aufhielt, ist laut Behörden ebenfalls "in eine unbekannte Richtung abgereist". Er wurde 2022 wegen "Falschmeldungen" über die russische Armee zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.

Kommunikation abgebrochen

Auch zum ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow gibt es keinen Kontakt mehr. Orlow sitzt wegen "wiederholter Verunglimpfung" der russischen Armee seine zweieinhalbjährige Haftstrafe ab.

Ähnlich "verschwunden" ist auch der Deutsch-Russe Kevin Lick. Der junge Mann wurde im Februar 2023 auf dem Flughafen von Sotschi festgenommen und zu vier Jahren Strafkolonie verurteilt. Die Ermittlungen ergaben, dass er Einsatzorte der russischen Armee fotografiert hatte.

Von der Außenwelt abgeschnitten: Es ist nicht klar, wo sich der inhaftierte Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa befindet Bild: Anton Novoderezhkin/Tass/picture alliance

Und schließlich wurde der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa als siebenter "Reisender" an einen anderen Ort verlegt. Einer der Anwälte von Kara-Mursa bestreitet dies jedoch. Er habe dabei keinen Zugang zu seinem Mandanten, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters.  

Auch der Anwalt eines anderen Gefangenen, der seinen Namen lieber nicht veröffentlichen möchte, erklärte der DW, dass die Kommunikation mit seinem Mandanten auf einmal abbrach: "Wir wurden vorher nicht über irgendwelche Änderungen informiert. Auch an den Haftbedingungen hat sich nichts geändert."

Der im Exil lebende russische Jurist Iwan Pawlow erklärte gegenüber der Deutschen Welle, dass jegliche Kommunikation mit den Gefangenen während ihrer Verlegung eingestellt werde. Der endgültige Bestimmungsort dürfe dem Verurteilten nicht bekannt sein.

Russland: Aus dem Exil gegen Wladimir Putin

04:39

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Spekulationen über Begnadigung

Der Strafvollzugsdienst habe fünf Tage Zeit, um die Angehörigen über den Verbleib der inhaftierten Person zu informieren: "Aber hier geht es um ungewöhnliche Fälle, also können wir die formellen Fristen eher vergessen."

Pawlow schließt nicht aus, dass alle "vermissten" politischen Gefangenen an einen Ort gebracht würden: "Sie könnten nach Moskau kommen, wo das Regime die absolute Geheimhaltung ihres Aufenthaltsortes garantiert."

Es sei möglich, dass die Frauen und Männer dort auf ihren Austausch warten würden. Für sie alle könnten Reisepässe und ein Begnadigungserlass des Präsidenten vorbereitet werden.

Pawlow merkt an, dass so ein Begnadigungserlass auch ohne das vorherige Begnadigungsgesuch möglich sei. So sei es im Fall der ukrainischen Pilotin Nadeschda Sawtschenko gewesen.

Auch der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich befindet sich noch in russischer Haft. Er wurde wegen "Spionage" zu 16 Jahren Gefängnis verurteiltBild: Donat Sorokin/TASS/dpa/picture alliance

Strafkolonie für US-Journalist Gershkovich

Der Kreml weigerte sich, die Frage eines russischen Journalisten zu beantworten, ob ein Austausch von politischen Gefangenen, darunter auch dem US-amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich, bevorstehe.

Der Prozess gegen Gershkovich wurde Mitte Juli nach mehr als einem Jahr Ermittlungen in nur zwei Tagen überraschend schnell beendet. Der Reporter wurde in einem angeblichen "Spionagefall" zu sechzehn Jahren Haft verurteilt.

Der Kreml hat mehrmals zu verstehen gegeben, dass er Gershkovich gegen den mutmaßlichen russischen Geheimdienstler Wadim Krassikow gern austauschen würde. Krassikow verbüßt eine lebenslange Haftstrafe in Deutschland, weil er 2019 einen anderen russischen Staatsbürger im Berliner Tiergarten ermordet hatte.

Rückkehr zu sowjetischen Zeiten

Die in Berlin lebende Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa, Leiterin der Stiftung "Russland hinter Gittern", glaubt, dass alle Anzeichen für einen "großen Austausch" vorlägen. Deutsche Behörden seien in dieses Ereignis involviert, sagt sie in einem Gespräch mit der Deutschen Welle.

Der russische Friedensnobelpreisträger Oleg Orlow vor Gericht in Moskau. Er leitete die Menschenrechtsorganisation "Memorial", die am 28.12.2021 in Russland aufgelöst wurde Bild: Alexander Zemlianichenko/AP Photo/picture alliance

Der Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowskij schreibt in seinem Telegram-Kanal, dass es vor kurzem ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko auf der russischen Insel Walaam gegeben habe, das nicht angekündigt gewesen sei.

"Es könnte dabei der Austausch von Rico Krieger, einem deutschen Staatsbürger, der in Belarus zum Tode verurteilt wurde, gegen Wadim Krasikow besprochen worden sein." Bemerkenswert sei dabei, so Politikwissenschaftler Belkowskij, "dass der belarussische Machthaber nach dem Treffen mit Putin am 30. Juli eine Begnadigung für Krieger in Aussicht gestellt hat."

Auch der russische Politikwissenschaftler Dmitri Oreschkin hält einen Gefangenenaustausch für möglich. Er sieht darin den Versuch der russischen Behörden, die entsprechende sowjetische Praxis wieder aufleben zu lassen.

"Putin ist ein Vertreter des Systems, der eine klare, vertraute Lebensformel für einen Sowjetmenschen wiederherstellt." Der Experte verweist darauf, dass der Kreml mit allen Mitteln den mutmaßlichen FSB-Agenten Krassikow zurückbekommen möchte, der "einen hohen Wert für das mafiöse System und seine Selbstbehauptung" darstelle.

Ein möglicher Austausch könnte laut Oreschkin "als die Suche nach einer Verhandlungsbasis" betrachtet werden. Die Option eines Gefangenenaustausches der einheimischen Bevölkerung könnte zudem als "Sieg" verkauft werden.

Nawalnaja: "Unmöglich, Alexejs Arbeit nicht fortzusetzen"

02:40

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Juri Rescheto Studioleiter Riga
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