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Bergisch Gladbach: Mit KI gegen Kindesmissbrauch

20. August 2020

Jörg L. steht im Zentrum des größten Missbrauchsskandals in Deutschland. Im Prozess gaben Chatpartner Einblick in eine digitale Parallelwelt. Künstliche Intelligenz soll bei der Auswertung beschlagnahmter Daten helfen.

Deutschland Köln Prozess im Missbrauchsfall Bergisch Gladbach
Bild: picture-alliance/dpa/O. Berg

"Bullseye", "Master of Chaos", "Koppelstange" - so nannten sie sich in ihrer digitalen Parallelwelt. Im Saal 210 des Kölner Landgerichts sahen sich Jörg L. und seine Chatpartner Bastian S. sowie Patrick F. nun wieder. Im Prozess gegen Jörg L., der im Zentrum des wohl größten Missbrauchskomplexes in Deutschland steht - mit einem Netzwerk von bislang über 30.000 ermittelten digitalen Identitäten, Online-Pseudonymen wie eben "Bullseye", Master of Chaos" , "Koppelstange".

Unter großem Medieninteresse war zum Wochenbeginn der Prozess gegen Jörg L. eröffnet worden - mit einer trotz der nüchternen Juristensprache schwer erträglichen Verlesung der Anklageschrift: 80 Minuten brauchte Staatsanwältin Clémence Bangert, um eine nach der anderen insgesamt 79 sexuelle Gewalttaten vorzutragen, die der 43-jährige gelernte Koch vor allem an seiner eigenen Tochter begangen haben soll - ab ihrem dritten Lebensmonat.

Lebenslanges Trauma

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Familientreffen, damit kein Verdacht aufkommt

Am Mittwoch sagten im Prozess gegen Jörg L. zwei seiner Chatpartner als Zeugen aus. Zuerst der bereits Ende Mai zu zehn Jahren Haft verurteilte Bastian S. Nur flüchtig streift der 27-jährige ehemalige Bundeswehrsoldat Jörg L. mit seinem Blick; kein Nicken für den gelernten Koch, der im grauen Pulli, mit kahlgeschorenem Schädel und Ziegenbärtchen am Kinn nur ein paar Meter entfernt sitzt.

Dabei haben die beiden ihre kranke Leidenschaft für Kinderpornographie nicht nur online geteilt. Sie haben sich mehrfach in der realen Welt getroffen: Zum gemeinsamen Missbrauch ihrer eigenen Kinder, zum Sex miteinander, aber auch zu Familientreffen mit den Ehefrauen. "Damit die keinen Verdacht schöpfen", wie Bastian S. dem ebenso behutsam wie beharrlich nachfragendem Vorsitzenden Richter Christoph Kaufmann erklärt.

Der mit blauem Schlabber-T-Shirt, Kinnbart und Brille eher wie ein Computer-Nerd wirkende Ex-Soldat schildert, wie er Jörg L. 2018 in einer pädophilen Online-Gruppe kennen lernte. Diese Gruppe operierte nicht etwa im Darknet. Man traf sich virtuell bei Skype. Rund 4000 Mitglieder groß sei die Gruppe gewesen. Einer davon eben jener Jörg L., der ihn anschrieb und mit dem er dann privat weiter chattete, zum "gegenseitigen Beschnuppern". Um zum weiteren Vertrauensaufbau Bilder auszutauschen, habe man allgemein zugängliche Clouddienste wie Dropbox verwendet. Aus dem Mund von Bastian S. klingt all das verstörend banal.

Ende Mai wurde Bastian S. zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er trat in Köln als Zeuge aufBild: picture-alliance/dpa/R. Weihrauch

Reizwäsche und Sexspielzeug

Sogar nachdem Bastian S. im Juni 2018 aufgeflogen war, blieben die beiden in Kontakt. In einer ersten Reaktion hatte S. alle Missbrauchsbilder von seinem Handy, von seinem Computer und anderen Datenträgern gelöscht – mithilfe einer speziellen Software, die keine Spuren hinterlässt. Später kopiert er sich alles wieder von Jörg L.s Datenträgern zurück – und plant mit ihm weitere Missbrauchstaten. Weil er seine eigenen Kinder nicht mehr sehen darf, jetzt mit seiner Nichte. Mit der durfte S. wegen einer Verfügung des Jugendamtes nicht allein sein. Ausgerechnet Jörg L. - zitiert Richter Kaufmann das Urteil gegen Bastian S. - habe bei einem für November geplanten Treffen der Garant für die Sicherheit der Nichte sein sollen. Sexspielzeug und Reizwäsche waren per Onlinehandel bereits besorgt. Nur die Verhaftung von Jörg L. am 21. Oktober 2019 verhinderte den Missbrauch.

Die bei Jörg L. beschlagnahmten Handys, Computer, Festplatten brachten die Ermittler auf die Spur von Patrick F. Der 39-jährige KFZ-Mechaniker wurde nur vier Tage später im hessischen Niedernhausen festgenommen - und sah Jörg L. vor dem Kölner Gericht zum ersten Mal nicht nur digital, sondern auch im realen Leben.

Digitale Spuren führten die Kölner Ermittler schnell zu Patrick F. Bild: BAO Berg/Polizei Köln

"Eigene Welt"

Bis dahin kannten sie sich nur von den Bildern, die sie rege miteinander tauschten. Auch Patrick F. und Jörg L. hatten sich in einer Chatgruppe kennen gelernt, ebenfalls 2018. Der untersetzte Mann mit dem roten T-Shirt beschreibt diese Gruppe als eine eigene Welt. "Man fühlt sich sicher, obwohl es ein einziger Untergang ist", sagt F. vor Gericht. Und berichtet von einer "Sucht, die so groß gewesen ist, dass man ständig am Handy war". In der Werkstatt habe er das Werkzeug fallen lassen, wenn neue Nachrichten im Chat aufpoppten. F. spricht von einem "ständigen Warten voller Erregung auf neue Videos; man war völlig fixiert".

Dabei habe er gewusst, dass es falsch war, was er mit seinen Kindern anstellte, sagt Patrick F. Und auch, dass er immer Hilfe haben wollte. "Aber dafür war ich zu feige", gesteht F. ein, gegen den am nächsten Dienstag (25. 8.) in Wiesbaden der Prozess eröffnet wird – wegen des Vorwurfs des dutzendfachen sexuellen Missbrauchs an seinen leiblichen Kindern und eines Stiefkindes.

Keuschheitsprobe

Der pädophile Untergrund der Chatforen, das wird an diesem Prozesstag deutlich, funktioniert nach dem einfachen Gesetz von Geben und Nehmen: Wer Bilder oder Videos will, musste auch welche anzubieten haben. Patrick F. schimpft in seiner Aussage über die vielen "Dummschwätzer", die immer nur nach Bildern fragen, aber selbst nichts liefern – oder uralte Bilder "mit einem Kalender im Hintergrund von 1995".

2017 wurde in Deutschland die Darknet-Kinderporno-Plattform "Elysium" ausgehobenBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Ermittler der Polizei stehen damit vor einem Dilemma: Wie sollen sie in anonymen Foren an Hinweise auf die Identität der Täter und an Beweismittel kommen, wenn sie keine entsprechenden Inhalte anzubieten haben? Im Darknet steht vor dem Zugang zu kinderpornographischen Foren häufig ohnehin eine sogenannten "Keuschheitsprobe", bei der einschlägiges Missbrauchsmaterial hochgeladen werden muss.

Nach Medieninformationen setzt die Polizei inzwischen künstlich generierte Kinderpornographie für ihre verdeckten Ermittlungen ein, auch im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach. Künstliche Intelligenz wird mit echten Missbrauchsdarstellungen gefüttert, bis sie in der Lage ist, selbst täuschend ähnliche Bilder zu produzieren, die dann nicht mehr die Persönlichkeitsrechte der Opfer verletzen.

Simulation "Sweetie"

Schon 2013 hatte die Hilfsorganisation "Terre des Hommes" gezeigt, dass digitale Lockvögel funktionieren. Sie hatten am Computer das 10-jährige philippinische Mädchen "Sweetie" generiert und in Cybersex-Foren erfolgreich auf die Jagd nach Pädokriminellen geschickt.

In Deutschland durften Ermittler bis zu diesem Frühjahr solche Mittel nicht einsetzen. Weil das Verbreiten kinderpornographischer Inhalte verboten war - auch für Polizisten. Seit März aber haben Ermittler diese Möglichkeit - vorausgesetzt es wird kein echtes Geschehen wiedergegeben und das Material wurde "nicht unter Verwendung einer Bildaufnahme eines Kindes oder Jugendlichen hergestellt".

"Ermutigende Zwischenergebnisse"

Auch an anderer Stelle rüsten die Ermittler auf. Die im Komplex Bergisch Gladbach zuständige "Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime", kurz: ZAC NRW, bei der Staatsanwaltschaft Köln ansässig, erprobt den Einsatz Künstlicher Intelligenz bei der Analyse der gigantischen beschlagnahmten Datenmengen.

ZAC NRW Leiter Hartmann und NRW-Justizminister Biesenbach setzen auf KIBild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Seit einem Jahr läuft das Forschungsprojekt, an dem auch Microsoft Deutschland und die Universität des Saarlands beteiligt sind. "Erste mir mitgeteilte Ergebnisse sind ermutigend", freut sich der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach gegenüber der DW. Künstliche Intelligenz könne eine Schlüsseltechnologie für den Umgang mit digitalen Straftaten wie etwa Kindesmissbrauch und Kinderpornografie im Internet sein. "Nur wenn es gelingt, mehr Automatisierung und KI-Technologie in den Praxiseinsatz zu bringen, werden die Strafverfolger dauerhaft in der Lage sein, mit den stetig steigenden Mengen digitaler Beweismittel umzugehen", betont der Minister.

Nach Recherchen der "Zeit" sollen die Ermittler allein im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach 85 Terabyte mit Bildern und Videos gesichert haben.