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Politik

Berlin, die Stadt, in der Juden leben wollen

9. November 2018

80 Jahre nach den Novemberpogromen ist jüdisches Leben in Berlin Alltag. Mehr als 30.000 Juden leben an der Spree. Trotz Antisemitismus und Polizeischutz. Eine Reportage über vorsichtige Normalität von Christoph Strack.

Chanukka-Leuchter am Brandenburger Tor Juden in Berlin
Bild: picture-alliance/dpa/W. Kastl

"Es bedeutet mir sehr viel, dass ich in Berlin groß geworden bin", sagt Greta Zelener. "Die Stadt hat, was das Judentum angeht, in Deutschland am meisten zu bieten." Die 28-jährige Jüdin schreibt derzeit eine Doktorarbeit an der Humboldt-Universität Berlin. Seit gut 20 Jahren lebt sie in Berlin.

Mit ihren Eltern kam sie damals aus dem ukrainischen Odessa in die deutsche Hauptstadt. In jene Stadt, in der einst ihre Urgroßmutter lebte, bevor sie in die Ukraine auswanderte. Auch in jene Stadt, in der Nazi-Deutschland die Vernichtung des europäischen Judentums plante.

Vor 80 Jahren brannten in Deutschland Synagogen, auch in Berlin. Der Mob warf bei jüdischen Geschäften die Fenster ein und plünderte die Auslagen. Schläger zogen orthodoxe Juden an ihren Bärten durch die Straßen und verprügelten sie. Nicht viel später begann der Massenmord an den Juden.

Nun, 80 Jahre später, werden in Berlin wieder Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet – liberale, konservative, orthodoxe. In der Stadt leben so viele Juden wie nie zuvor nach der Shoa. Und in dieser Woche trafen sich rund tausend Teilnehmer auf dem Jüdischen Zukunftskongress unter dem Motto "Weil ich hier leben will". 

Minister Heiko Maas (l) und Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, bei der Ordination von Rabbinern im Oktober in Berlin Bild: picture-alliance/dpa/B.v. Jutrczenka

Im fünften Schuljahr

Doktorandin Greta Zelener bezeichnet sich selbst als "nicht religiös". Wenn es um einen Berliner Ort ihrer jüdischen Identität geht, nennt sie als Erstes einen Ort des Gedenkens. Das Anne-Frank-Zentrum am Hackeschen Markt sei ihr wichtig, eine dauerhafte Gedenkausstellung. "Das war der erste Ort, wo mir das Judentum nahegebracht wurde. Im fünften Schuljahr", sagt sie. Und dann nennt sie ihre Wohngegend im Bezirk Charlottenburg. Weil in der Nähe einst die Uroma wohnte. Und weil es in der Nachbarschaft den größten koscheren Supermarkt der Stadt gibt.

Auch Michael Beynisch ist vor einigen Jahren aus der Ukraine, der Stadt Charkiw, nach Deutschland gekommen. Der 42-Jährige gehört mit seiner Familie, Frau und drei Kindern, zur Gemeinschaft Chabad Lubawitsch in Wilmersdorf, einer streng religiösen jüdischen Gruppe. Er erinnere sich, dass sie in der Ukraine - noch zu Zeiten der Sowjetunion - von der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten "fast jeden Tag gehört" hätten. "Aber wir konnten das nicht wirklich verstehen, wie die Menschen sich in dieser dunklen Zeit gefühlt haben."

"Ich trete nicht auf Stolpersteine"

Michael Beynisch vor dem Jüdischen Zentrum in WilmersdorfBild: DW/C. Strack

Für Beynisch, der im Sicherheitsgewerbe arbeitet, sind in Berlin die sogenannten Stolpersteine ein besonderes Zeichen, jene quadratischen Tafeln aus Messing im Bürgersteig, die ein Künstler vor den ehemaligen Wohnhäusern von Juden, die von den Nazis ermordet wurden, anbringt. "Ich versuche aus Respekt, nicht mit dem Fuß darauf zu treten."

Und Beynisch erinnert zudem seine Besuche am Gedenkort Gleis 17 im S-Bahnhof Grunewald. Zehntausende Juden fuhren von hier aus mit der Bahn in den Tod. "Da spüre ich schon Traurigkeit. Diese Atmosphäre an diesem einen Gleis, die Pflanzen, die Stille."

Und doch: Den vorhandenen Antisemitismus in Deutschland registrieren Beynisch und auch Zelener – aber er besorgt sie nicht zu sehr. Er sei, sagt Beynisch, schon in vielen Ländern unterwegs gewesen, "die Situation mit dem Antisemitismus ist überall gleich". In der Ukraine und in Russland habe er weit stärker offenen Antisemitismus erlebt als in Deutschland. "In Deutschland gibt es das nicht so offen. Vielleicht reden die Menschen zuhause so."

Ein beeindruckender Ort: Das Mahnmal "Gleis 17" in Berlin-Grunewald.Bild: picture alliance/dpa/Arco Images/Schoenig

Der Staat schützt jüdisches Leben in Berlin, an vielen Orten. 2016 sprach der Senat von 65 Einrichtungen, die durch Polizisten bewacht würden. Wer durch die Mitte im Osten Berlins geht, sieht immer mal wieder Uniformierte, Absperrgitter und Verbotsschilder, hohe Zäune, Videoüberwachung. An einer Reihe von Orten verhindern tief im Boden verankerte Poller oder schwere Stahlketten Anschläge mit Fahrzeugen. Berlin 2018, 80 Jahre nach den Novemberpogromen, 73 Jahre nach dem Holocaust.

Und, nebenbei, es gibt – man muss nur wissen wo – auch jüdische Einrichtungen ohne Bewachung. So wie das nette jüdische Restaurant in Mitte, dessen Besitzerin vor wenigen Jahren aus Jerusalem kam. Beim ersten Satz der Frage, was sie über Antisemitismus in Deutschland denke, winkt sie bereits ab, "Nein, kein Interesse." Vielleicht kommt ihr der Gedanke an Yorai Feinberg. Der jüdische Gastronom aus dem Stadtteil Schöneberg hatte im Dezember 2017 einen üblen Fall antisemitischen Hasses publik gemacht. Bis heute wird er dafür beschimpft.

Hass auf dem Sportplatz

Auch Beynisch erlebte antisemitischen Hass. Als Fußballer von TUS Maccabi in Berlin. Beim Spiel gegen eine Mannschaft mit arabischen Spielern eskalierte die Stimmung, auch von Zuschauern gab es offene Hetze. "Ich hatte Angst vor Körperverletzung", sagt er. Aber im Alltag in Berlin habe er keine Angst.

Aus Furcht vor Anschlägen bewacht die Polizei die Synagoge in der Oranienburger StraßeBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Zelener sagt, die Polizei vor jüdischen Einrichtungen gehöre zum Alltag. "Man gewöhnt sich daran, wenn man hier aufgewachsen ist." Gewiss, man wünsche sich, dass das Judentum Normalität sei und nicht des besonderen Schutzes bedürfe. Aber der blutige Anschlag in Pittsburgh erinnere daran, dass es immer einen Anschlag geben könne. Sie sei, "bis die AfD in den Bundestag eingezogen ist, relativ gelassen" bei dem Thema gewesen. Seitdem habe sie die Befürchtung, "dass Antisemitismus in die Mitte der  Gesellschaft rückt und Beschimpfungen Normalität werden". Da bekommt ihre Normalität Risse.

Wenn die Zeitzeugen sterben…

Die 28-Jährige schreibt derzeit ihre Doktorarbeit über Jüdische Erwachsenenbildung. Da geht es nicht vorrangig um die Erinnerung an die Shoa. Aber Zelener, Stipendiatin des jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Stipendienwerks (ELES), macht sich auch darüber Gedanken. Sie plädiert für Besuche von Schulklassen in Museen, Gedenkstätten, auch an ehemaligen KZ-Orten. "Und wenn die Zeitzeugen sterben, ist es um so wichtiger, die Erinnerung zu haben", sagt sie.

Berlin, am 9./10. November 1938: Zerstörte Geschäfte von jüdischen BesitzernBild: akg-images/picture-alliance

Zelener und Beynisch, zwei Beispiele jüdischen Lebens in Berlin, ganz unterschiedlich in ihrer religiösen Prägung, in ihrem Alltagsleben. Aber eines verbindet doch beide: Zelener, die bis heute ihren ersten Schultag erinnert, an dem sie noch kein Wort Deutsch konnte, ist heute Doktorandin eines Stipendienwerks. Und Beynisch, der nur langsam und mit schwerem Akzent Deutsch spricht, erzählt von seinen drei Kindern, neun, sieben und fünf Jahre alt. Er spreche daheim mit den Kindern Russisch, untereinander sprächen sie Deutsch, in der Synagoge Hebräisch, in der Schule auch Englisch.

All das steht für eine neue Generation jüdischen Lebens in Berlin. Die Stadt ist seit Jahren bei Menschen jüdischen Glaubens angesagt - aus Osteuropa, aus Großbritannien und Frankreich, auch aus Israel. Eine genaue Zahl ist schwer zu benennen. Mehr als 12.000 Gläubige gehören zur jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt. Aber es leben wohl über 30.000, vielleicht über 40.000 Juden an der Spree. Supermärkte bieten koschere Produkte an. Die Zahl der Restaurants mit israelischer und jüdischer Küche wächst fast von Monat zu Monat. 80 Jahre danach. Eine vorsichtige Normalität.

Zum zehnjährigen Bestehen des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks erschien der Band "Weil ich hier leben will. Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas", Herder Verlag, Freiburg, 224 Seiten. Er wurde im November 2018 auf dem Jüdischen Zukunftskongress in Berlin vorgestellt. 

 

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