1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Berlin in den 90er-Jahren: Spielplatz und Brachland

Tanya Ott
8. November 2024

Vor 35 Jahren fiel die Berliner Mauer und veränderte die Stadt für immer. Die 90er-Jahre machten Berlin zum Inbegriff von Kreativität und Wandel. Eine Fotoausstellung lässt diese aufregende Zeit wieder aufleben.

Ein Foto aus der Ausstellung "Träum Weiter - Berlin, die 90er". Ein Mann lässt einen Drachen steigen, hinter ihm ein Brachgelände und dahinter viele Plattenbauten
Eine Stadt im Umbruch: "Träum weiter - Berlin, die 90er"Bild: © Sibylle Bergemann/OSTKREUZ

Der 9. November 1989 war ein Wendepunkt für Berlin, der die Stadt sowohl geopolitisch als auch kulturell veränderte. Das darauffolgende Jahrzehnt hatte einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Berlin vom Rest der Welt wahrgenommen wurde. Genau dieses Thema greift die Fotoausstellung "Träum weiter - Berlin, die 90er” im C/O Berlin (einem Ausstellungshaus für Fotografie, Anm. d. Red.) auf, passend zum 35-jährigen Jubiläum.

Gezeigt wird eine Auswahl von Bildern der 1990 gegründeten Fotoagentur Ostkreuz. Die Fotos decken den Zeitraum vom 9. November 1989 bis 2002 ab und fangen die Stimmung von der Euphorie jener Nacht, in der die Mauer fiel, bis zur Skepsis gegenüber den Veränderungen danach ein: Man sieht Straßenschlachten zwischen Polizei und Hausbesetzern, die sich in leerstehenden Wohnhäusern mit unklaren Eigentumsverhältnissen einquartiert hatten. Man schaut Arbeitern zu, die neue Gebäude errichten. Die Kamera nahm aber auch Politiker und Geschäftsleute, die die neuen Investitionsmöglichkeiten im ehemaligen Ostteil der Stadt erkundeten, ins Visier - ebenso wie die aufkommende Techno-Szene.

Mythos Berlin

In diesem Jahrzehnt entstand der Mythos von Berlin als Ort der Kreativität, der Experimentfreude und der Innovation. Die Stadt wurde zur globalen Heimat von Techno und endlosen Partys. Doch es war auch eine Zeit des massiven Wandels, in der mit der DDR ein ganzes Land und sein politisches System in einem anderen aufging: der BRD.

Das Leben der Menschen wurde auf den Kopf gestellt. Während einige die leeren Räume als Chance zur Selbstdarstellung und Neuerfindung sahen, betrachteten andere sie als Investitionsmöglichkeiten.

Wem gehört die Stadt?

Es folgte ein ständiges Tauziehen darum, wer bestimmen darf, was die Stadt denn nun genau ausmacht. Heute ist Berlin vor allem die zweitteuerste Stadt in Deutschland. Einige meinen, sie sei ihrem eigenen Hype zum Opfer gefallen, da Investoren mit der Aura der Bohème Kasse machen und damit unweigerlich zerstören, was die besondere Atmosphäre einst erst möglich machte. So stark die Spannungen derzeit sind, sie waren schon unmittelbar nach dem Fall der Mauer spürbar - das macht die Ausstellung deutlich.

Annette Hauschild hat viele Momente der Berliner Clubszene eingefangen - wie die Love Parade 1990Bild: © Annette Hauschild/OSTKREUZ

Generationsübergreifende Perspektiven

Sie wurde kuratiert vom C/O Berlin-Kurator Boaz Levin, geboren 1989 in Israel, und Annette Hauschild, Fotografin und Ostkreuz-Mitglied, die vor dem Mauerfall aus Westdeutschland nach Berlin zog. Die unterschiedlichen Erfahrungen mit der Stadt seien entscheidend für die Auswahl der Fotos gewesen, sagt Hauschild.

"Das Thema 90er-Jahre interessiert vor allem die jungen Menschen, also praktisch die Generation, die damals gerade erst geboren wurde, und für sie müssen wir eben diese Zeit zeigen. Boaz hat auf ganz andere Bilder reagiert als ich", so Hauschild gegenüber der DW. 

Ein Highlight, das junge Leute fasziniert, sind Fotos von frühen Hackertreffen mit heute veralteten Computern. Neben der Technik der 90er-Jahre ist auch die damalige Techno-Musikszene für die jüngere Generation von Interesse. Hauschild etablierte sich schnell als Chronistin dieser Szene und fotografierte für lokale Magazine. Ihre Aufnahme von Ravern auf der zweiten Love Parade 1990, einer als Demonstration getarnten Straßenparty, ist eines der Schlüsselbilder der Ausstellung. Hinter den Tänzern ist ein eingerüstetes West-Berliner Gebäude zu sehen. Er erinnert daran, dass die Neuerfindung Berlins nach dem Mauerfall in beiden Teilen der Stadt stattfand.

Die Brachflächen Ostberlins wurden zu Spielplätzen für KünstlerBild: Jordis Antonia Schloesser OSTKREUZ/VG Bild-Kunst 2024

Ein "Vorzeigeding von einem besetzten Haus"

Tatsache ist, dass die meisten Neuanfänge im ehemaligen Osten zu beobachten waren. Zu den bekanntesten Projekten, die aus dem durch den Zusammenbruch des Sozialismus entstandenen Vakuum hervorgingen, gehört das Kunsthaus Tacheles. Das ehemalige Kaufhaus stand leer und verfiel zunehmend, bis es von Künstlern besetzt wurde. Es entstanden Ateliers, Ausstellungsräume, ein Kino und eine Bar mit Live-Musik.

"Tacheles ist das Vorzeigeding von einem besetzten Haus, wovon dann einfach auch viel Kultur ausgegangen ist in alle möglichen Richtungen - und vor allem eine Kultur, die keine Kohle brauchte", so Hauschild. "Geld war fast schon ein bisschen verpönt. Wenn jemand es geschafft hat, wenn jemand seine Sachen teuer verkauft hat oder kommerziell war, fand man ihn eigentlich auch nicht mehr so gut."

2012 wurde das Kunsthaus geräumt. heute befindet sich hier ein Block mit Büroflächen, Luxuswohnungen, Ladenketten und einer Außenstelle des schwedischen Fotozentrums Fotografiska - ein krasser Gegensatz zur ursprünglichen Nutzung. 

Wohin blickt Berlin....?Bild: Harald Hauswald /OSTKREUZ

Ein skeptischer Blick

Die Ausstellung soll mehr sein als ein nostalgischer Rückblick. Hauschild und Levin wollen den Mythos Berlin dekonstruieren. "Denn dieses Image der Partystadt, das sie vielleicht einmal war, mit all den Freiflächen, hilft vielleicht dem Tourismus und dem Marketing, aber was in der Zwischenzeit passiert ist, macht die Stadt einfach nicht mehr für jeden zugänglich."

Zur Veranschaulichung dieser Spannungen verweist die Kuratorin auf zwei Fotos von Harald Hauswald aus dem Jahr 1994, die sich gegenüberstehen. Auf dem einen sieht man Männer in Anzügen von hinten, die auf einer Plattform stehen und nach Osten auf die Baustelle am Potsdamer Platz blicken - dorthin, wo die Skyline von Baukränen dominiert wird. Ihnen gegenüber steht eine Gruppe Jugendlicher vor Baustellencontainern und Baukränen, ebenfalls am Potsdamer Platz, und blickt mit skeptischer, vorsichtiger Miene in Richtung Westen.

Diese Zurückhaltung, so suggeriert die Ausstellung, war berechtigt.

Adaptiert aus dem Englischen von Rayna Breuer.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen