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Reise

Berlin-Kreuzberg: Leben im Touristenstrom

Frederike Müller
22. November 2017

Wo in Berlin der Tourismus tobt, randalieren Radikale. Seit der Eröffnung eines neuen Hotels mitten im Kreuzberger Kiez bekommt ein schwelender Konflikt wieder mal Zündstoff. DW-Reporterin Frederike Müller berichtet.

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Bild: Lars Wendt

Fremd wie ein Kreuzfahrtschiff liegt es mitten im Zentrum von Kreuzberg: das neue Orania-Hotel. Hinter der denkmalgeschützten Sandsteinfassade ist es im September vor Anker gegangen. Vor dem Hotel liegen die Grünflächen des Oranienplatzes, auf denen vor drei Jahren noch Flüchtlinge campierten. Die riesigen Fenster aus der Kaiserzeit erinnern an die einstige Funktion des Baus als Kaufhaus. Nun ist es nach langem Leerstand ein Musik-Hotel für betuchte Touristen. Eine Übernachtung kostet zwischen 200 und 750 Euro.

In einer Gegend, die eher bekannt ist als Hochburg der linken Szene, stößt die Luxusherberge auf Unverständnis. "Warum gerade hier? Geht deren Klientel jetzt slum und guckt mal, wie der Rest der Menschheit lebt?", ätzt eine Kreuzbergerin. Andere begrüßen die Neubelebung, sind aber skeptisch: "Die, die die fette Kohle haben, gehen nicht nach Kreuzberg. Das erledigt sich von selbst."

Zerbrochene Scheiben am Orania-HotelBild: Lars Wendt

Während das Luxushotel bereits vor der Eröffnung im Bezirk für rege Diskussion sorgte, wurde es bei Radikaleren schnell zum Hassobjekt: Die meterhohen Scheiben im Erdgeschoss sind mit Steinen oder Baseballschlägern malträtiert worden. Daneben an der Mauer Reste von Farbbeutelattacken. In Hotelbar und Restaurant sitzen dennoch zwei Dutzend Gäste - mit dem Rücken zur Scheibe.

Die Rücksichtslosigkeit der Partytouristen

Wer die Oranienstraße hinunter spaziert, findet noch einige alteingesessene Geschäfte, Kneipen und Clubs, etwa das SO36. Hier feierten in den 80er Jahren die Dead Kennedys und andere Punkgrößen. Auch an diesem Novemberabend sind die Lichter an. Drinnen läuft eine Wrestling-Veranstaltung, vor der Tür rauchen einige Besucher. Vier Spanierinnen laufen vorbei. Sie suchen den Ort der 1. Mai-Krawalle und schwärmen von der Flaniermeile Kreuzbergs als multikulturellstem Ort Berlins.

Institution seit den 1980er Jahren: der Club SO36Bild: Lars Wendt

Ansonsten ist von Touristen wenig zu sehen. Kontrastprogramm zum üblichen Hype im Sommer: "Da ist es viel voller. Als Ottonormalverbraucher, der von der Arbeit nach Hause fahren möchte, kommst du da gar nicht mehr durch", erzählt Patricia, die in der "Fadeninsel" schräg gegenüber vom SO36 Wolle verkauft. Dann sind die Probleme mit dem Partyvolk auch für den Wollladen spürbar. "Die hinterlassen ihre Flaschen in den Blumenkübeln. Hier wird außen auf dem Fensterbrett gesessen. Speisereste, Kippen, alles landet auf dem Boden", so Inhaberin Marita Tenberg.

Die "Fadeninsel" ist seit 2002 in der OranienstraßeBild: Lars Wendt

Gleich nebenan betreibt Michael Wießler seinen Comicladen "Modern Graphics". Seit 1991. In den Regalen ballen sich deutsche und englischsprachige Comics, Popkultur und Szene, Donald Duck steht neben der Comic-Berlin-Biografie über Nick Cave. Die Haltung der Partyreisenden, die in die Oranienstraße kommen, beschreibt Wießler so: "Ha, hier ist Kreuzberg, hier lass ich richtig die Sau raus. Das hatten wir früher schon mit Berlinern aus anderen Bezirken - wenn sie sich denn hierher getraut haben. In der absoluten Menge ist das aber in den letzten 20 Jahren mehr geworden." So "Ballermann-mäßig" wie in Teilen von Friedrichshain oder Mitte sei es zwar noch nicht. "Aber der Weg dorthin ist geebnet."

Während Wießler in seinem Büro weiterarbeitet, blättert Stammkundin Astrid im Laden gerade ein Manga durch. Über Touristen ärgert sie sich vor allem, wenn die am Kiosk billig ihr Bier kaufen und sich dann damit in eine Kneipe setzen. "Die Gastronomen müssen Miete und Angestellte bezahlen. Ich habe schon mehrfach Touristen darauf angesprochen."

Wießlers Comicladen: Popkultur und SzeneBild: Lars Wendt

Angst vor Gentrifizierung

Dass der zunehmende Tourismus schon länger im ganzen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg für Konflikte zwischen Anwohnern und Gästen sorgt, hat 2014 das Bezirksamt auf den Plan gerufen. Seitdem gilt das Zweckentfremdungsverbot, wonach Wohnungen nur mit Genehmigung des Bezirks als Ferienwohnung vermietet werden dürfen. Dennoch ist auf der Ferienwohnungsplattform Airbnb bis 2016 die Zahl der Anbieter in Berlin weiter gestiegen. Ganze Hinterhäuser auch rund um die Oranienstraße wurden entmietet und zu Ferienwohnungen umgestaltet.

Die Anwohner fühlen sich allein gelassen. "Hier wird ein Geschäft nach dem nächsten in ein Lokal umgewandelt. Auch in den bislang ruhigeren Seitenstraßen der O-Straße eröffnen immer mehr Grillbuden und Imbisse. Die Spätis - also Kioske, die rund um die Uhr billig Alkohol, Zigaretten und mehr verkaufen - stellen Stühle vor die Tür, obwohl sie keine Gastronomie sind. Und der Bezirk setzt sich nicht dagegen durch. Das ist hier in Kreuzberg so ein laissez-faire-Style auf Bezirksebene, der mich ärgert", kritisiert Anwohnerin Astrid.

Linker Protest gegen Gentrifizierung in KreuzbergBild: Lars Wendt

Die Oranienstraße habe sich verändert, bestätigt Michael Wießler vom Comicladen: "1991, als wir hier aufmachten, gab es vielmehr kleine Geschäfte." Er sieht die Entwicklung skeptisch: "Allein wenn man die Gewerbemietenentwicklung in der Gegend sieht - wer kann sich das noch leisten?" Dabei macht gerade die Vielfältigkeit der Straße ihre Anziehungskraft aus. Auch für Touristen.

Tourists welcome

Dass die Touristen auch Gutes bringen, darüber sind sich hier viele einig. Wießlers Comicladen etwa wurde früher nur von den Berlinern, Szene- und Comictouristen frequentiert. Für ihn als Gewerbetreibenden ist der Touristenansturm daher positiv: "Wir profitieren definitiv davon."

Touristenattraktion: Graffitis in der OranienstraßeBild: Lars Wendt

Anwohnerin Astrid erinnert sich: "Die O-Straße war hier schon immer die Flaniermeile. Aber früher gab es nur Linke und Türken. Mittlerweile ist der Kiez bunter, entspannter geworden - auch durch die vielen locker gekleideten Touristinnen. Man wird nicht mehr dumm angemacht, wenn man mal Abendrobe, Minirock oder hohe Schuhe trägt."

Auch Marita Tenberg von der "Fadeninsel" findet ihre Touristen angenehm: "Aber das ist ja auch eine ganz spezielle Klientel, die für die Wolle kommt. Oft sind es dänische Touristen, aber auch aus Asien oder Australien."

Laut einer Studie des Stadtvermarkters visitBerlin fühlt sich die Mehrheit der Anwohner von Friedrichshain-Kreuzberg nicht durch Tourismus gestört oder eingeschränkt - auch wenn der Zustimmungswert mit 66 Prozent niedriger ist als in ganz Berlin (85 Prozent).

November-Chillen vor Kreuzberger KneipenBild: Lars Wendt

Für 2017 rechnet visitBerlin wieder mit rund 31 Millionen Übernachtungen in der deutschen Hauptstadt. In den vergangenen Jahren ist die Metropole mit ihrem dichten Kulturangebot Top 3 der beliebtesten europäischen Städtereiseziele geworden - hinter London und Paris. "Das war ein sehr schnelles Wachstum. Dass es in einzelnen Orten auch zu Verwerfungen führt, ist nicht verwunderlich. Wir sind aber nicht die Partymetropole. Der Feiertourismus fällt nur am meisten auf und er stört am meisten die Anwohner", so visitBerlin-Sprecher Christian Tänzler. Die Touristen seien dabei nicht unbedingt die Mehrheit unter den Feiernden: "Zum Beispiel waren bei einer unserer Umfragen auf der Admiralbrücke, einem berühmten Partyhotspot im Sommer, über 50% der Gäste aus anderen Berliner Bezirken."

Damit die Stimmung zwischen Einheimischen und Touristen sich nicht weiter verschlechtert, soll das neue Tourismuskonzept, das die Stadt 2018 vorlegen will, die Besucherflut verträglicher gestalten - mit Maßnahmen gegen die Entwicklungen, die Menschen in ihrer Lebensqualität einschränkten. Auch wenn klar sei, dass es keine kurzfristigen Lösungen gebe, so Tänzler: "Wir arbeiten daran eine Balance zu finden, gemeinsam mit den Anwohnern, der Politik und den Gewerbetreibenden im Tourismus."

Ob man dabei die für Berlin typische Mischung in der Oranienstraße erhalten kann, ist entscheidend für ihre Attraktivität bei Anwohnern und Touristen. Wenn nicht, droht vielleicht schon bald die nächste Eskalation gegen die Touristifizierung in Friedrichshain-Kreuzberg.

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