1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Berlin zählt seine Obdachlosen

Ben Knight
29. Januar 2020

In der Nacht zu Donnerstag wollen Freiwillige im Auftrag des Berliner Senats die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz ermitteln. Ziel ist es, mehr über Obdachlose zu erfahren - um die Hilfsangebote zu verbessern.

@dw_stories Armut in Deutschland Berlin Obdachlose
Bild: DW/Shamsan Anders

Nach New York und Paris wird Berlin die dritte Stadt der Welt sein, in der Menschen ohne feste Bleibe gezählt werden. Sozialverbände und Hilfsorganisationen fordern dies schon seit Jahren. In der "Nacht der Solidarität", wie die Aktion auch in Paris genannt wurde, werden 3700 Freiwillige in Dreier- bis Fünfergruppen ausschwärmen. Ausgerüstet mit laminierten Stadtplänen sollen sie zwischen Mittwoch, 22 Uhr, und Donnerstag, 1 Uhr, über 600 Zonen in genau festgelegten Routen ablaufen. Sie sind auf der Suche nach Obdachlosen, die vom bestehenden Hilfsangebot nicht erreicht werden - und auch in kalten Winternächten auf der Straße nächtigen. 

Die Freiwilligen werden die Obdachlosen aber nicht nur zählen, sondern auch Fragen nach Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Dauer der Obdachlosigkeit stellen. In jedem Team wird eine Person dabei sein, die beruflich oder durch Ehrenamt Erfahrung mit Obdachlosen hat. Manche waren sogar selbst einmal ohne festen Wohnsitz. Die Freiwilligen wurden für die Zählung zu einem respektvollen Umgang verpflichtet: So dürfen sie nicht in Zelte und Hütten hineinschauen, mit Taschenlampen ins Gesicht leuchten, Fotos machen oder Menschen aufwecken. Auch das Duzen ist tabu. 

Viele Obdachlose versuchen, mit dem Sammeln von Pfandflaschen an etwas Geld zu kommenBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Die Aufgabe der Freiwilligen ist eng begrenzt. "Wir haben in der Nacht nur drei Stunden Zeit; wir haben also keine Zeit, lange Interviews oder Beratungsgespräche zu führen. Wir haben auch keine Zeit für große solidarische Unterstützungsaktionen wie das Verteilen von heißer Suppe", so Klaus-Peter Licht, der Leiter des Projekts. Um den Persönlichkeitsschutz der Obdachlosen nicht zu gefährden, sind auch keine Journalisten bei der Zählung zugelassen. Angestoßen hat das Projekt der Berliner Sozialsenat nach dem Vorbild von Paris, wo in diesen Tagen schon zum dritten Mal die Obdachlosen gezählt werden.

Gefühlte Zahlen 

Die Zahl der Obdachlosen ist schwer zu ermitteln. Wie vielen anderen Städten liegen auch den Berliner Behörden nur die Zahlen über Menschen in Notunterkünften vor. Zur Zeit leben dort rund 36.000 Männer und Frauen. Sie wissen aber nicht, wie viele Obdachlose insgesamt in der Stadt leben. "Wir haben keinerlei Zahlen, wir haben nur Schätzungen. Und je nach dem, wo die Menschen hingucken, etwa rund um den Bahnhof Zoo, werden sie das Gefühl haben, es gibt unendlich viele obdachlose Menschen in dieser Stadt", sagt Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei.

Sozialsenatorin Breitenbach: Obdachlose "sind Teil der Stadtgesellschaft"Bild: Imago/C. Ditsch

Doch es geht nicht nur um die Gesamtzahl. Die Behörden wollen zum Beispiel auch herausfinden, aus welchen Ländern die Obdachlosen kommen. Denn soviel ist schon bekannt: Von den amtlich erfassten 36.000 Menschen in Notunterkünften sind 16 Prozent Frauen und mehr als die Hälfte stammt aus Nicht-EU-Staaten. Daher liegen die Fragen in 14 Sprachen vor. 

"Obdachlosigkeit ist heute viel internationaler und weiblicher. Wir erleben auch zunehmend obdachlose Menschen mit einer schweren Behinderung und mehr ältere Menschen, die obdachlos sind", sagt Sozialsenatorin Breitenbach. "Daraufhin haben wir gesagt, wir müssen Wohnungslosenhilfe so aufstellen, dass sie an die Bedürfnisse der wohnungslosen Menschen angepasst ist, dass sie dort auch ankommt. Und sie muss umfassend sein." So geschah es auch beim Vorbild Paris: Bei der Obdachlosenzählung in Frankreichs Hauptstadt fanden die Behörden zum Beispiel heraus, dass der Frauenanteil höher war als angenommen, und richteten daraufhin mehr Unterkünfte für Frauen ein.

"Ich nehme das so wahr, dass wir in Berlin an vielen Stellen darüber diskutieren, wie wir die soziale Situation verbessern können", sagt Bürgermeister Michael Müller. "Wie gehen wir auf Menschen zu, die Hilfe suchen? Wir diskutieren das natürlich mit den wichtigen Instanzen in dieser Stadt. Aber ich muss offen selbstkritisch sagen: Ganz oft hab' ich nicht im Blick, dass es um Menschen geht, die das, was wir als Hilfe organisieren, gar nicht in Anspruch nehmen können."

Wo die Obdachlosen leben

Unterschiedliche Vermutungen gibt es auch darüber, wo genau in Berlin die Obdachlosen leben. Die einen verorten sie eher im Zentrum, weil sie dort besser Flaschen sammeln und betteln können. Andere glauben, die Obdachlosen würden wie andere Randgruppen auch in die Außenbezirke vertrieben."Das wissen wir aber nicht, deshalb diese Zählung", so Breitenbach. Die Sozialsenatorin hofft, dass dieser Zählung weitere folgen werden und dass die Aktion in anderen deutschen und europäischen Städten Schule machen wird.

Ein Obdachloser in New York: Die US-Metropole war die erste Großstadt weltweit, die Menschen ohne Bleibe gezählt hatBild: Getty Images/D. Angerer

Die europäische Dimension der Zählung sollte nicht unterschätzt werden. Die EU-Niederlassungsfreiheit bedeutet einerseits, dass EU-Bürger überall in der Europäischen Union arbeiten dürfen. Doch wer keine Arbeit im EU-Ausland hat, hat dort auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Daher die wachsende Zahl obdachloser Nichtdeutscher in Deutschland.

Die Dreierkoalition aus SPD, Grünen und Linkspartei in Berlin weiß um die Brisanz dieser Tatsache. Doch sie will die Obdachlosen - unabhängig von ihrer Herkunft - nicht ausgrenzen, im Gegenteil. "Wir würden gerne mit dieser Nacht der Solidarität eins zeigen: Die obdachlosen Menschen in dieser Stadt sind Teil dieser Stadtgesellschaft. Wir wollen solidarisch sein", so die Sozialsenatorin.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen