Berlinale 2024: Warum der Ehrenbär-Gewinner polarisiert
Elizabeth Grenier
19. Februar 2024
Der Filmemacher Martin Scorsese wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Er hat Meisterwerke geschaffen, aber auch für viel Aufregung gesorgt.
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Martin Scorsese ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Regisseure und Produzenten Hollywoods. Seine Sammlung an Preisen und Auszeichnungen kann sich wahrlich sehen lassen. Am 20. Februar 2024 kam eine weitere Ehrung hinzu: Der 81-Jährige erhielt den Goldenen Ehrenbären der Berlinale für sein Lebenswerk.
Seit 1967 hat er bei 26 Spielfilmen und vielen weiteren Dokumentarfilmen Regie geführt. Sein neuestes Werk, "Killers of the Flower Moon", handelt von der systematischen Ermordung amerikanischer Ureinwohner des Osage-Stamms in den 1920er-Jahren. Die Täter: weiße Siedler, die das ölreiche Land erobern wollten. Der Film basiert auf historischen Tatsachen und ist für zehn Oscars nominiert, darunter eine für Lily Gladstone, die damit als erste amerikanische Ureinwohnerin für einen Academy Award in der Kategorie Beste Schauspielerin nominiert wurde.
Während der Film von vielen Seiten gelobt wurde, gehen die Meinungen innerhalb der indigenen Gemeinschaft auseinander: "Das Hauptproblem ist, dass wir diese Art von Geschichten hauptsächlich aus der Perspektive der weißen Kolonisatoren erzählen", sagte etwa Jeremy Charles, ein Cherokee-Filmemacher, der New York Times.
Es ist nicht das erste Mal, dass Scorsese für einen seiner Filme kritisiert wird. Lange bevor in der Filmbranche Forderungen nach mehr Diversität und Geschlechtergerechtigkeit laut wurden, polarisierten seine Werke.
Hier sind fünf Kontroversen, die zum Vermächtnis des Regisseurs Martin Scorsese gehören.
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1. Der Vorwurf der Gewaltverherrlichung
Schon früh in seiner Karriere entwickelte der Regisseur seine typischen Themen wie Machogehabe und Machtausübung. Die Gewalt in "Taxi Driver" (1976) und die Besetzung einer Kinderprostituierten mit der damals zwölfjährigen Jodie Foster machten das mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Meisterwerk zu einem umstrittenen Film.
Angeblich war "Taxi Driver" einer der Auslöser für die wahnhafte Besessenheit eines Mannes namens John Hinckley Jr., der 1981 versuchte, Präsident Ronald Reagan zu ermorden, weil er, wie er sagte, "Jodie Foster beeindrucken wollte".
Manche Kritiker Scorseses meinen, der Regisseur müsse das Verhalten seiner Protagonisten in seinen Filmen direkter verurteilen. Doch Scorsese findet solche moralischen Haltungen "mehr als langweilig", wie er kürzlich in einem Interview mit Timothee Chalamet für die Zeitschrift GQ sagte. Er bezog sich dabei auf die Reaktionen auf "The Wolf of Wall Street" (2013). Auch dieser Film stand im Verdacht, "psychopathisches Verhalten zu verherrlichen".
2. Scorsese und die katholische Kirche - eine komplizierte Beziehung
Bevor er seine Leidenschaft für das Kino entdeckte, wollte Scorsese Priester werden. Er ist bis heute ein bekennender Katholik.
Viele seiner Filme drehen sich um Glaubensfragen. Doch mit dem Film "Die letzte Versuchung Christi" (1988) verärgerte er konservative Katholiken.
Der Film enthält eine halluzinatorische Sequenz, in der Jesus (gespielt von Willem Dafoe) Sex mit Maria Magdalena hat. Die Vorführungen wurden von Protesten begleitet. Der Film wurde in verschiedenen Ländern verboten, darunter auch in Argentinien, dem Geburtsland von Papst Franziskus.
Inzwischen scheint das Verhältnis zwischen dem Vatikan und dem provokanten Regisseur wieder aufgetaut zu sein. Nach einer Vorführung seines Films "Silence" (2016) über die Verfolgung von Jesuitenchristen im Japan des 17. Jahrhunderts hatte Scorsese sein erstes Treffen mit dem Papst. Anfang dieses Jahres kündigte der Regisseur an, dass er einen weiteren Film über Christus drehen wolle. Dieser soll auf dem Roman "Das Leben Jesu" basieren.
3. Streit mit Marvel-Fans
In einem Interview mit dem Empire-Magazin aus dem Jahr 2019 erklärte Scorsese, die Marvel-Superheldenfilme seien für ihn kein Kino. Er verglich sie mit "Themenparks" und argumentierte, dass ihnen die emotionale und psychologische Tiefe fehle, die er mit echtem Kino verbinde.
Regisseure und Stars des Marvel Cinematic Universe wurden aufgefordert, auf seine Äußerungen zu reagieren. Das Thema hat sich zu einem Streit zwischen ihm und den Fans der Superhelden-Blockbuster entwickelt. Ausgang offen.
Regie-Legende Martin Scorsese wird 80
Martin Scorsese gilt als einer der wichtigsten US-Regisseure der Nachkriegsgeschichte. Unzweifelhaft hat der New Yorker das Kino geprägt wie kaum ein anderer. Nun wird er 80 und hat noch einiges vor.
Bild: Getty Images/AFP/F. Dufour
Der Herr der Bilder: Martin Scorsese
Geboren 1942 in Queens, New York, steht Martin Scorsese für ein amerikanisches Kino jenseits von Hollywood. Der Italo-Amerikaner wuchs in Little Italy in seiner geliebten Heimatstadt auf und hatte keine einfache Kindheit. Zunächst wollte er Priester werden, entschied sich dann aber doch für ein Filmstudium. Zum Glück für das amerikanische Kino - und die Zuschauer in aller Welt!
Bild: Getty Images/AFP/F. Dufour
Bilder einer Stadt: Hexenkessel
Nach seinem Debütfilm "Wer klopft denn da an meine Tür?" von 1967 brachte "Hexenkessel" (1973) Scorsese den Durchbruch. Erstmals zeigte er auf der Leinwand, was ihn berühmt machen sollte: die New Yorker Unterwelt, Kleinkriminelle, Mafia-Milieu. Dazu ein rauer Blick auf die Wirklichkeit, furios montiert zu einem filmischen Crescendo und kongenial besetzt mit Schauspielern wie Robert De Niro (r.).
Bild: United Archives/dpa/picture alliance
Ikonografische Bilder: Taxi Driver
Seinen trotz zahlreicher späterer Meisterwerke heute berühmtesten Film drehte Scorsese 1976: "Taxi Driver". Das Drama um einen frustrierten Vietnam-Veteranen, der sein Geld in New York als Taxifahrer verdient, ist eine verstörende Meditation über Liebe und Gewalt. Mit De Niro in der Hauptrolle, Michael Chapman hinter der Kamera und der Musik von Bernard Hermann schuf Scorsese ein Meisterwerk.
Bild: Ronald Grant/IMAGO
Musikalisch: New York, New York
Manchen Kritikern gingen die obsessiv eingesetzten Gewaltszenen in "Taxi Driver" zu weit. Das ein Jahr später produzierte "New York, New York" war eine Art Besänftigung - ein Ausstattungsfilm mit musikalischem Ausrufezeichen und Liza Minnelli (r.) und Robert De Niro in den Hauptrollen. "New York, New York" zeigte auch ein weiteres starkes Interessenfeld Scorseses auf: die Musik.
Bild: picture alliance/dpa/Everett Collection
Gewalt im Boxring: Wie ein wilder Stier
Als einer der besten Filme aller Zeiten gilt Scorseses Boxer-Biografie "Wie ein wilder Stier" aus dem Jahre 1980. Der Regisseur widmete sich der Karriere des Boxers Jake LaMotta, zeigt dessen Aufstieg und Niedergang. Legendär bis heute: die schauspielerische Leistung von Robert De Niro, der zur möglichst realistischen Darstellung der einzelnen Lebensphasen de Mottas etliche Kilos zulegte.
Bild: United Archives/IMAGO
Stalking: The King of Comedy
Nach Gangsterdramen, Musik- und Sportfilmen zeigte der Regisseur 1982 eine weitere Facette seines Könnens. "The King of Comedy" ist eine brillante Satire auf Starkult und Medienhype. An der Kasse recht erfolglos, gilt der Film heute aber als einer von Scorseses besten Werken. Zumal er mit De Niro und Jerry Lewis eine Traumkombination vor die Kameras holte.
Bild: Mary Evans Picture Library/picture alliance
Filmgeschichte: Die Farbe des Geldes
Martin Scorsese ist nicht nur ein herausragender Regisseur, sondern auch einer des besten Kenner der Filmgeschichte. Das zeigen seine dokumentarischen Werke über einzelne Kinoepochen - und sein Billard-Drama "Die Farbe des Geldes" mit Paul Newman und Tom Cruise. Der Film knüpft an Robert Rossens "Haie der Großstadt" von 1961 an, in dem Newman als Poolbillardspieler "Fast Eddie" brilliert.
Bild: Glasshouse Images/picture alliance
Religiös: Die letzte Versuchung Christi
Scorsese wollte als junger Mann Priester werden. Daraus wurde nichts, der Amerikaner entschied sich für den Beruf des Filmregisseurs. Doch immer wieder kam er später auf das Thema Religion zurück - in zahlreichen Nebenhandlungen seiner Gangsterfilme, aber auch - ganz zentral - in seinem Jesus-Film "Die letzte Versuchung Christi". In der Hauptrolle: ein überzeugender Willem Dafoe.
Bild: dpa-Film/picture alliance
Thema Mafia: Goodfellas
Im Jahre 1990 fand Martin Scorsese dann zu seinem Leib-und-Magen-Thema zurück, exzessiver, ausführlicher und auch brutaler als jemals zuvor. "Goodfellas" blickt tief in die Strukturen der Mafia, hier der Cosa Nostra in New York. In den Hauptrollen: Ray Liotta (l.), Joe Pesci (M.) und natürlich - Robert De Niro (r.). Hinter der Kamera, inzwischen zum vierten Mal, der Deutsche Michael Ballhaus.
Bild: picture-alliance
Historisch: Zeit der Unschuld
Als wollte er sich nicht auf das ewige Thema Mafia festlegen lassen, wandte sich Martin Scorsese 1993 wieder einem ganz anderen Genre zu. Auch sein Historienfilm "Zeit der Unschuld" nach einem berühmten Roman der New Yorker Autorin Edith Wharton war ein künstlerischer Erfolg. Scorsese beherrschte auch dieses Genre scheinbar mühelos - zumal mit Schauspielern wie Daniel Day-Lewis und Winona Ryder.
Bild: dpa/picture alliance
Monumental: Gangs of New York
Beides, das Thema Bandenkriminalität und Historienfilm, verknüpfte der Regisseur dann im Jahre 2002. Sein bisher teuerstes Projekt, das mehr als 100 Millionen Euro kostete, entstand mit Hilfe einer Kölner Produktionsfirma. "Gangs of New York" stieß auf ein geteiltes Echo - auch weil man Produzent Harvey Weinstein vorwarf, er habe seine Macht gegenüber dem Regisseur zu sehr ausgereizt.
Bild: picture-alliance/United Archives/Impress
Glamourös: The Aviator
Was Robert De Niro in der ersten Karrierehälfte für Martin Scorsese war, das wurde Leonardo DiCaprio in dessen zweiter Arbeitsphase: sein Lieblingsschauspieler. Hier zeigt sich DiCaprio an der Seite von Cate Blanchett als legendärer Milliardär Howard Hughes in dem Film "Aviator" - ein brillantes Porträt des exzentrischen Flugpioniers, Filmproduzenten und Verführungskünstlers.
Bild: Entertainment Pictures/IMAGO
Kinoliebe: Hugo Cabret
Wieder einmal eine Liebeserklärung an das Medium Kino war 2011 Scorseses "Hugo Cabret", der ins Paris der 1920er-Jahre zurückblendet und die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen erzählt, der die Welt entdeckt. "Hugo Cabret" war vieles: ein Jugendfilm und eine digitale 3-D-Ausstattungsoper, ein Film über Paris (im Studio gedreht) und vor allem eine Hommage an die Geburtsstunde der Cinematografie.
Bild: Entertainment Pictures/IMAGO
Die Macht des Geldes: The Wolf of Wall Street
Dem Thema Finanzwelt wandte sich der Regisseur 2012 zu - in seiner unnachahmlichen Art. "The Wolf of Wall Street" bietet einerseits einen ernstgemeinten Blick hinter die Kulissen der Wall Street und spießt die Mentalität der Börsenmakler auf - und ist doch ein "echter" Scorsese: weder moralisch noch bieder, furios inszeniert und voller skurriler und auch humoristischer Szenen.
Bild: picture alliance/dpa/abaca/C. Guerin
Rückkehr zum Mafiafilm: The Irishman
Von Netflix finanziert ist "The Irishman" von 2019 Martin Scorseses vorerst letzter Spielfilm. Darin zu sehen: Robert De Niro, Joe Pesci und Al Pacino in den Hauptrollen. Der Film, ein Epos, wie ihn sich nur ein Regisseur wie Scorsese selbst leisten kann, verlangt mit sagenhaften dreieinhalb Stunden Laufzeit einiges an Sitzfleisch ab. Bei den Oscars kam er auf zehn Nominierungen.
Bild: Netflix/dpa/picture alliance
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4. Scorseses teure Partnerschaft mit Netflix
Obwohl er einst die Meinung vertrat, dass Streaming-Dienste das Kino "entwerteten", tat er sich dann doch für "The Irishman" (2019), seinen Film mit Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci in den Hauptrollen, eng mit Streaming-Anbieter Netflix zusammen.
Der Filmemacher erklärte, niemand sonst in Hollywood sei bereit gewesen, für die Produktion zu zahlen, in der eine bahnbrechende - und teure - "De-Aging"-Technologie zum Einsatz kam. Das Budget belief sich auf 250 Millionen Dollar. Dem Hollywood Reporter zufolge überdenkt Netflix derzeit sein Vorgehen. Die "Ära der teuren Eitelkeiten", die Scorsese die Produktion dieses Films ermöglichte, sei "wahrscheinlich vorbei".
5. Die fehlenden Frauenfiguren
Diese Debatte hat Scorsese während seiner gesamten Karriere begleitet, wurde aber nach der Veröffentlichung von "The Irishman" neu entfacht: In dem dreieinhalbstündigen Film sagen Frauenfiguren nur ein paar wenige Sätze.
Ein Blick in seine Filmografie zeigt jedoch, dass der Filmemacher auch Werke mit starken weiblichen Hauptfiguren inszeniert und nuanciertere Darstellungen von Frauen gedreht hat, darunter "Alice Doesn't Live Here Anymore" (1974) und "The Age of Innocence" (1993) oder seine aktuelle Netflix-Serie über die New Yorker Ikone Fran Lebowitz.
Scorsese beschreibt seine Arbeit als eine Erkundung der Menschheit, die wenig mit der Geschlechtertrennung zu tun habe, wie er kürzlich in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Guardian sagte: "Ich versuche herauszufinden, wer wir als menschliches Wesen sind, als Organismus, woraus unsere Herzen gemacht sind."