1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Film

Migration ist mehr als Flucht

Elizabeth Grenier
14. Februar 2022

Zwei abendfüllende Dokumentarfilme aus Nigeria und dem Südsudan erzählen Migrationsgeschichten aus einem anderen Blickwinkel. Beide feiern Weltpremiere auf der Berlinale.

 Filmstill "No U Turn": Afrikaner sitzen in einem Bus
Für seinen Film "No U-Turn" reiste der nigerianische Filmemacher Ike Nnaebue mit dem Bus durch sieben LänderBild: Jide Akinleminu

"Ich habe mich schon sehr früh in das Geschichtenerzählen verliebt", sagt Ike Nnaebue. "So lange ich mich erinnern kann, haben mich Geschichten begleitet. Der Afrikaner wuchs in einem nigerianischen Dorf auf und war jedes Mal fasziniert, wenn seine Großmutter zu erzählen begann - und stellte schnell fest, dass man die Menschen mit Geschichten beeinflussen kann. Vielleicht hat ihn das schließlich dazu bewegt, Filmemacher zu werden.

Doch bevor er diesen Karriereweg einschlug, beschäftigte ihn eine Geschichte ganz besonders: Die von den vielen Afrikanerinnen und Afrikanern, die ihr Heimatland verlassen und versuchen, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen -  in der Hoffnung, dort reich zu werden, um die Familie ernähren zu können. Im Alter von 20 Jahren nahm Ike Nnaebue selbst die Route von Nigeria über Benin, Mali und Mauretanien nach Marokko, um von dort übers Meer nach Europa weiterzufahren. Da ihm die Überfahrt damals aber zu riskant erschien, kehrte Nnaebue um. Er erinnerte sich an seine Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen und nahm in seiner Heimat Nigeria ein Filmstudium auf. 

Filmemacher Ike NnaebueBild: Jide Akinleminu

Auf den Spuren einer vergangenen Reise

Ein Vierteljahrhundert später hat er noch einmal denselben Weg von Nigeria nach Marokko zurückgelegt, den er in seiner Jugend einschlug. Diesmal drehte er dabei den Dokumentarfilm "No U-Turn" (Deutsch: Keine Umkehr), der bei den Internationalen Filmfestspiele von Berlin in der Sektion"Panorama" zu sehen ist und im Wettbewerb um den Publikumspreis steht.

Als Nnaebue die Reise 1995 zum ersten Mal antrat, fühlte sie sich für ihn wie ein "Abenteuer" an. Er war jung, voller Enthusiasmus - und kannte nicht die Gefahren einer solchen Odyssee.

Heute haben diejenigen, die sich auf den Weg machen, durch das Internet und die sozialen Medien Zugang zu viel mehr Informationen. Die Menschen, die der Filmemacher in seinem Dokumentarfilm traf, "wussten, dass es gefährlich ist und dass sie die Reise vielleicht nicht überleben werden", sagte Nnaebue der DW. "Aber sie haben sich trotzdem entschieden, es zu tun. Was man also sieht, ist eine Menge Verzweiflung."

Zwei "Generation Africa"-Filme auf der Berlinale

"No U-Turn" ist einer von zwei Filmen, die für die Berlinale ausgewählt wurden und im Rahmen des Projekts "Generation Africa" entstanden sind. Es ist eine Reihe von 25 Filmen - von kurz bis Spielfilmlänge - aus 16 afrikanischen Ländern. In allen Beiträgen geht es um das Thema "Jugend und Migration".

Filmszene aus "No U-Turn"Bild: Jide Akinleminu

Das Projekt wurde von der südafrikanischen Nichtregierungsorganisation STEPS zusammen mit der DW-Akademie ins Leben gerufen, mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) .

Das zweite Werk, das in Berlin Premiere feiert, ist "No Simple Way Home" von Akuol de Mabior. Ihr Dokumentarfilm ist der erste Film aus dem Südsudan, der auf der Berlinale gezeigt wird.

Kind von Freiheitskämpfern

"No Simple Way Home" ist ein sehr persönlicher Film, in dem de Mabior ihre Eltern und ihr Heimatland würdigt.

Akuol de Mabior war 16 Jahre alt, als ihr Vater bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam - nur drei Wochen nach seinem Amtsantritt als Vizepräsident des Sudan. John Garang de Mabior, der die Befreiungsbewegung des Südsudan über 20 Jahre lang angeführt hatte, wird heute als Gründervater des Südsudan verehrt, der sich 2011 unabhängig vom Sudan erklärte.

Die Beerdigung von John GarangBild: CAMERA PRESS/Tom Morley

Im Jahr 2013 stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, der mehr als sechs Jahre andauerte. Der jahrelange Konflikt und mehrere extreme Überschwemmungen haben im Südsudan eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt ausgelöst.

Die Familie de Mabior hält an der politischen Vision des einflussreichen Patriarchen fest. Im Februar 2020 wurde die Mutter der Filmemacherin, Rebecca Nyandeng de Mabior, eine der fünf Vizepräsidenten des Südsudan in der sogenannten Einheitsregierung des Landes.

Eine neue Heimat nach dem Exil

Akuol de Mabiors Dokumentarfilm hinterfragt ihre eigene Identitätssuche und ihre Suche nach der Bedeutung von Heimat, die sie oft mit diesen Worten definiert hat: "Zuhause ist dort, wo meine Mutter ist." Inzwischen hat sie erkannt, dass die Antwort komplizierter ist als das.

Rebecca Nyandeng de Mabior (Mitte) ist Politikerin und Mutter der Filmemacherin Akuol Bild: LBx Africa

Die Filmemacherin wuchs mit ihrer Familie im Exil auf - in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Aber, so erzählt sie im Gespräch mit der DW: "Als Kinder von Freiheitskämpfern entsteht ein seltsamer Patriotismus. Obwohl wir nie im Südsudan gelebt haben, war da dieses das Gefühl, dass wir es uns in Kenia nicht zu gemütlich machen sollten - weil wir schließlich alle in den Südsudan zurückkehren würden."

Zunächst war sich Akuol de Mabior nicht sicher, ob ihre Geschichte zum Projekt "Generation Africa" passen würde, das sich ja mit Migration befasst. Doch sie merkte schnell, dass ihre Reise eine andere Dimension hat - eine, die nicht dem typischen Narrativ von Afrikanern folgt, die ihr Land aus Verzweiflung verlassen. Im Südsudan sei die Frage, was es bedeutet, nach Hause zu kommen, eine neue Migrationsgeschichte, erklärt de Mabior. "Der Südsudan ist ein neues Land und viele von uns sind woanders aufgewachsen - überall verstreut," sagt sie. "Wir haben also all diese verschiedenen Kulturen, und jetzt haben wir unser eigenes Land, und die Menschen versuchen, nach Hause zu kommen. Die Frage ist also: Was bedeutet es, nach Hause zu kommen?"

Filmemacherin Akuol de MabiorBild: Akuol de Mabio

Ein Netzwerk der afrikanischen Kreativszene

Das Projekt "Generation Africa" hat es afrikanischen Filmschaffenden ermöglicht, sich auf dem gesamten Kontinent zu vernetzen - und das mitten in der Corona-Pandemie, die in Afrika katastrophale Ausmaße angenommen hat.

Auf die Frage, wie COVID-19 seine Arbeit beeinflusst hat, sagt Regisseur Ike Nnaebue: "Ich glaube, dass die Pandemie der [Film-]Industrie geholfen hat." Sie habe dazu beigetragen, dass unter afrikanischen Kreativen mehr solcher Netzwerke entstanden seien.

Im Jahr 2019 suchte er noch nach Möglichkeiten, online mit Drehbuchautoren aus verschiedenen Ländern zusammenzuarbeiten. Dafür sei ihm die App "Zoom" empfohlen worden, erzählt er. Er sei nicht weit gekommen, als er die App zum ersten Mal ausprobierte. "Aber dann, ein paar Monate später, kam die Pandemie, und alle sagten: Zoom dies, Zoom das. Das war schon ein bisschen verrückt."

So gut es mit der Online-Vernetzung auch klappt - es ersetzt nicht das richtige Reisen. Und so freut sich der nigerianische Filmemacher umso mehr über seinen jüngsten Trip: den von Afrika nach Berlin - um am 14. Februar auf der Berlinale die Premiere seines Films zu feiern.

Die beiden Filme "No U-Turn" und "No Simple Way Home" werden im Sommer 2022 auch auf Arte TV gezeigt.

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen