"Zirkeltag" nennen geschichtsbewusste Menschen den 5. Februar 2018. An diesem Tag ist die Berliner Mauer genauso lang offen, bzw. weg, wie sie trennte. Klaus Krämer mit ganz persönlichen Gedanken zu diesem Bauwerk.
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28 Jahre Berlin mit und ohne Mauer
Von 1961 bis 1989 teilte die Berliner Mauer die Stadt und die Welt: 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage. Der 5. Februar 2018 markiert den Zeitpunkt, an dem die Mauer genauso lange nicht mehr steht, wie sie existierte.
Bild: picture-alliance/W.Kumm
1961: Erstarren und Entsetzen
Am 13. August 1961 beginnt die DDR damit, die Grenze des sowjetischen Sektors in Berlin abzuriegeln. Alle Verbindungen zwischen Osten und Westen werden getrennt. In den nächsten Wochen folgt der Aufbau einer Mauer aus Betonelementen, die wie hier entlang der Zimmerstraße in Kreuzberg anfangs eine geringe Höhe hat. Als Schutz vor dem Überklettern der Mauer dienen Metall-Abweiser mit Stacheldraht.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/M. R. Ernst
1962: Wahrzeichen hinter Stacheldraht
Die Teilung Berlins markiert zugleich die Teilung der Welt in Ost und West. Der "Eiserne Vorhang" ist endgültig geschlossen. Ehepartner, Familien, Freunde, werden brutal auseinandergerissen. Der "Antifaschistische Schutzwall", wie die Kommunisten die Mauer nennen, soll aber keineswegs vor Eindringlingen schützen, sondern das eigene Volk an der Flucht hindern - auch am Brandenburger Tor.
Bild: Stiftung Berliner Mauer
1962: Frühes Maueropfer
Gut ein Jahr nach Errichtung der Berliner Mauer versucht der 18-jährige Peter Fechter sie zu überklettern. Als er oben angelangt ist, schießen DDR- Grenzsoldaten. Getroffen, fällt Fechter zurück auf Ostberliner Gebiet. Fast eine Stunde bleibt er im Todesstreifen liegen, schreit um Hilfe. Schließlich transportieren Grenzsoldaten den Verblutenden ab, der nachmittags stirbt. Die Welt ist entsetzt.
Bild: picture-alliance/dpa
1963: Besuch eines Hoffnungsträgers
Am 26. Juni 1963 besucht der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy die zerrissene ehemalige Reichshauptstadt und lässt seinen Blick über Mauer und Todesstreifen schweifen. Während seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus sagt er den legendären Satz "Ich bin ein Berliner". Er stellt klar, dass die USA West-Berlin keinesfalls dem sowjetischen Kommunismus überlassen werden.
Bild: picture-alliance/Heinz-Jürgen Goettert
1965: Tödliches Niemandsland
Zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz entsteht ein Niemandsland mit zahlreichen Sperrelementen, die im ersten Jahrzehnt das Erscheinungsbild des Grenzstreifens prägen. Dazu gehören die vordere Grenzmauer mit aufgesetztem Stacheldraht, die Höckersperren gegen Durchbrüche mit schweren Fahrzeugen und Stacheldrahtzäune. Die Wachtürme sind überwiegend noch Holzkonstruktionen.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/W. Rupprecht
1973: Beiderseitiges Erstarren
Im Osten der Todesstreifen, aber auch West-Berlin wird durch die Mauer geprägt, vor allem die Stadtteile, die unmittelbar an der Sektorengrenze liegen. Im Schatten der Mauer entstehen verwahrloste Brachen und Freiflächen, die als Parkplätze, Müllablagen oder wilde Gärten dienen. Spielende Kinder, Künstler und Autonome nutzen sie hingegen oft als Freiraum für ihre Aktivitäten.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/W. Schubert
1976: Neuer Mauertyp
Ab 1975 wird die Mauer noch massiver: Die sogenannte "Grenzmauer 75" ist 3,60 Meter hoch. Ein Bautrupp verspachtelt die neu errichteten Betonsegmente, während ein Kran die Rohrauflage setzt. Grenzsoldaten bewachen mit mobilem Sicherungszaun die Arbeiten. Am linken Rand steht noch die ältere Betonschichtmauer. Ein US-Militärpolizist beobachtet 1976 das Schauspiel von der Westseite.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/E. Kasperski
1984: Übertünchtes Monster
Die weiß gestrichene Hinterlandmauer markiert den Beginn des Grenzstreifens von der Ostseite her, während die Thomaskirche im Hintergrund bereits im Westen steht. Die Überwachung beginnt jedoch weit vor dieser Mauer: Mit der sogenannten Hinterlandsicherung kontrollieren Stasi, Grenztruppen und Polizei das Gebiet nahe dem Grenzstreifen. Für den Aufenthalt ist ein Berechtigungsschein erforderlich.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/M. Schuhhardt
1987: Deutliche Forderung
Im Juni 1987 ist US-Präsident Ronald Reagan zu Besuch. Auf der West-Berliner Seite vor dem Brandenburger Tor hält er eine Rede. Rund 40.000 Menschen bejubeln vor allem seine Sätze "Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Reißen Sie diese Mauer nieder!". Ein gutes Jahr zuvor hatte der Kreml-Chef begonnen, mit Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) neue politische Akzente zu setzen.
Bild: picture-alliance/dpa
1989 - Ein Bild von Freiheit geht um die Welt
Letztlich sind es die eingesperrten Menschen, die sich mit ihrer friedlichen Revolution die Freiheit erkämpfen. Am 9. November 1989 geschieht das Unfassbare: Die Mauer ist offen, das Monster ist tot. Mindestens 101 Menschen haben zwischen 1961 und 1989 auf der Flucht aus der DDR an der Berliner Mauer ihre Sehnsucht nach Freiheit mit dem Leben bezahlt. Doch zuletzt fließt nicht ein Tropfen Blut.
Bild: picture-alliance/W.Kumm
1990: Das Werk der Mauerspechte
Chris Gueffroy (20) war der letzte Flüchtling, der direkt an der Berliner Mauer erschossen wurde - neun Monate vor ihrem Fall. Jetzt ist der ehemals scharf bewachte Grenzstreifen durch die Löcher der Mauerspechte zugänglich geworden. Wie hier direkt am Reichstag lassen die Grenzsoldaten auch Familien durch die löchrig gewordene Mauer in das vormals hermetisch abgeriegelte Sperrgebiet.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/E. Kasperski
1991: Trennendes in neue Wege verwandeln
Im Juni 1990 beginnt der planmäßige Abbau aller noch bestehenden Grenzanlagen. Nicht nur die Grenzmauer, sondern alle Sperrelemente innerhalb des Grenzstreifens sowie die Hinterlandmauer müssen abgerissen werden. Am Nassen Dreieck in Pankow befindet sich eine der Sammelstellen für den Bauschutt. Die geschredderten Reste der Berliner Mauer werden größtenteils im Straßenbau verwertet.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/H. P. Guba
2002: Andacht in der Kapelle der Versöhnung
Die Kapelle der Versöhnung steht genau am Standort der zerstörten Versöhnungskirche. Seit dem Mauerbau lag die Kirche mitten im Grenzstreifen, bis sie im Januar 1985 von der DDR gesprengt wurde. Das Turmkreuz ist bei der Sprengung erhalten geblieben und befindet sich heute auf dem Gedenkstättenareal. In der Kapelle der Versöhnung finden die Andachten für die Opfer an der Berliner Mauer statt.
Bild: Stiftung Berliner Mauer/C. Jungeblodt
2014: Licht, wo Schatten war
Heute stehen an nur wenigen Stellen mahnende Reste der Berliner Mauer, die an das tödliche Ungetüm erinnern sollen. Wo genau sie stand, wissen die meisten Menschen nicht mehr. Vielleicht war deshalb die Installation "Lichtgrenze" im Jahr 2014 so erfolgreich. Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls markierten 6880 Ballonstelen, 3,40 Meter hoch, einen Teil des ehemaligen Mauerverlaufs auf 15,3 Kilometern.
Bild: Stiftung Berliner Mauer
2018: East Side Gallery als Denkmal
Das Denkmal East Side Gallery ist mit 1316 Metern das längste noch erhaltene Teilstück der Berliner Mauer. Nach der Maueröffnung wurde es im Frühjahr 1990 bemalt. 118 Künstler aus 21 Ländern wirkten daran mit. Hunderttausende bestaunen jedes Jahr die Werke. Mit der geplanten Übertragung an die Stiftung Berliner Mauer soll es in Zukunft auch ein Informationsangebot vor Ort geben.
Bild: Stiftung Berliner Mauer
2018: Berlin mit und ohne Mauer in Fotos
Etliche der in dieser Galerie verwendeten Fotos zeigt die Gedenkstätte Berliner Mauer in einer Sonderausstellung vom 6. Februar bis zum 15. August im Besucherzentrum an der Bernauer Straße. Zu sehen sind überwiegend bislang unveröffentlichte Bilder aus je 28 Jahren Berlin mit und ohne Mauer. Dabei steht jeweils ein Bild für ein Jahr zwischen 1961 und 2018.
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Ist das wirklich wahr, am 5. Februar 2018 sind mehr als 28 Jahre oder genau 10.315 Tage seit dem Mauerfall vergangen? Schon ebenso viele Tage, wie die Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 die Stadt und irgendwie auch das Land und die Welt teilte. Kaum zu glauben. Weshalb nur kommt mir die Zeit ihrer Existenz so viel länger vor?
Zugegeben, als die Mauer gebaut wurde, war ich noch so klein, dass ich dieses tragische politische Ereignis von Weltbedeutung vermutlich verschlafen habe. Dennoch kann ich mich an die besorgten Gesichter meiner Eltern erinnern, wenn sie sich infolge dieses Mauerbaus über Jahre hinweg immer wieder über Fluchten, Fluchtversuche und erschossene Flüchtlinge austauschten. Keine Frage, das Rheinland war weit weg von der ehemaligen Reichshauptstadt - damals noch weiter als heute. Dennoch war dieser brutale, Leben und Hoffnung zerstörende Brecher aus Stahlbeton und Stacheldraht auch bei den Menschen weit im Westen Deutschlands ein großes Thema.
Theorie und Praxis in der Schule
Ganz nah kam mir die Mauer dann während der Schulzeit. Zuerst als Grundschüler. Da gab es tatsächlich den Vater eines Mitschülers, der Sperranlagen und Minenfelder erfolgreich und unverletzt überwunden hatte. Das klang dann schon gefährlich und ein bisschen auch nach Abenteuer.
Vollends im Stoff war ich 1974, als wir in Vorbereitung unserer Klassenfahrt nach Berlin (West) die Stadt von allen Seiten beleuchteten - historisch und aktuell. Natürlich waren wir dort auch im Theater, in der Oper, in diversen Museen und auf dem Ku'damm zum Shoppen. Aber nichts hat uns Jugendliche so geprägt wie diese Mauer, die einfach alles gnadenlos zerschnitt, trennte, zerstörte. Nichts wurde so unauslöschlich in unsere jungen Köpfe implantiert wie das Stacheldraht-Beton-Ufer der Insel Berlin (West): Die Ausblicke von Besucherplattformen über die Mauer hinüber zu Sperranlagen, Wachtürmen, kahlen Flächen – dann die Blicke der DDR-Grenzsoldaten herüber zu uns durch die präzise Schärfe ihrer Feldstecher. Mehr Beklommenheit ging nicht – vorerst jedenfalls.
Gefilzt bis zum Gehtnichtmehr
Sechs Jahre später schon. 1980 saß ich - inzwischen 21 Jahre alt - im Sonderzug von Köln nach Moskau. Olympische Spiele in der Hauptstadt des großen DDR-Brudervolks standen an. Allerdings boykottierten bis auf Großbritannien alle westlichen Staaten dieses Sportereignis wegen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan. Schlechte Voraussetzungen für uns als Zuschauer - und Reisende.
Der "Zirkeltag" der Berliner Mauer
03:20
Denn dieser Boykott hatte sich mutmaßlich negativ auf die Stimmung der DDR-Grenzsoldaten ausgewirkt. Oder waren die etwa immer so drauf? Kontrolle nach der Grenzüberfahrt bei Helmstedt/Marienborn, Kontrolle beim Verlassen der DDR und vor der Einfahrt nach Berlin (West). Kontrolle nach der Einfahrt in den Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin, Kontrolle vor dem Verlassen des Staatsgebiets der DDR Richtung Polen. Jede Form von Ansprache geschah im Kommandoton, dazu konzentrierte, prüfende und kühle Blicke der Uniformierten. Jeder im Abteil musste mehrfach den Inhalt seines Reisekoffers komplett auseinanderpflücken und sogar mitgeführte Bananen schälen.
Da es bereits dunkel war, als der Zug Berlin erreichte, wurden die Grenzanlagen von gleißendem Scheinwerferlicht geflutet, das die Nacht zum Tag und eine Flucht nahezu unmöglich machte. Besonders bedrohlich, beinahe apokalyptisch wirkte die Szenerie dort, wo an langen Laufleinen fixierte Wachhunde den im Schritttempo fahrenden Zug verbellten oder am Spreebogen, wo gleich an der Ecke des Reichstags die Grenze zwischen West und Ost verlief. Nicht zu vergessen die bewaffneten Soldaten auf den Bahnsteigen des Bahnhofs Friedrichstraße und halb versteckt in ihren Überwachungskabinen unter dem Hallendach. Wie wird es wohl den Normalos oder gar Dissidenten gehen, die in diesem Spitzel-Staat leben müssen?, schoss es mir damals durch den Kopf. Wieder prägende Erfahrungen mit der Mauer und dem Staat, der sich hinter ihr verschanzte.
Betoniert für die Ewigkeit
Die Jahre vergingen, das Interesse an gesamtdeutschen Themen, insbesondere dem der deutschen Teilung, keineswegs. Dieser ostdeutsche sozialistische Unrechtsstaat existierte noch immer und erfreute sich anscheinend bester Vitalität. Die Zahl der Fluchten, Fluchtversuche und Mauertoten stieg. Und wann immer eine spektakuläre Flucht gelang, freute ich mich diebisch.
Erst Ende April 1989 war ich dann wieder in Berlin. Inzwischen Redakteur beim Radio, hatte ich im Rahmen einer Informationsreise mit anderen Journalisten jede Menge Gelegenheit, mit politisch Verantwortlichen des Berliner Senats meinen Wissensdurst in Hintergrundgesprächen zu stillen. Zudem führte uns ein quirliger alter Stadtführer mit echter Berliner Schnauze zu all den geschichtsträchtigen Orten der Stadt – auch zu den Winkeln, die dem Auge des Touristen in aller Regel verborgen blieben.
Unvergessen das blasse Gesicht des jungen, blonden Grenzbeamten, der am Übergang Friedrichstraße intensiv meinen Ausweis kontrollierte. Unvergessen der spezielle Geruch im Ostteil, zusammengequirlt aus den Abgasen der Zweitakt-Motoren und dem Rauch der Kohleheizungen. Unvergessen ein beinahe lethargischer Ausdruck in den Gesichtern vieler Menschen. Und am Ende der Reise angesichts der nahezu perfektionierten Mauer und der Grenzanlagen die erschlagende Erkenntnis: Diese sozialistische Diktatur hat sie betoniert für die Ewigkeit!
Wehrlos gegen Kerzen und Gebete
Wie man sich doch täuschen kann. Die vermeintliche Ewigkeit sollte nur noch ein gutes halbes Jahr dauern. Dann war das menschenverachtende Konstrukt Berliner Mauer mitsamt seinen Konstrukteuren und Bewachern Geschichte – weggefegt vom Atem der Freiheit und vom Wind der Veränderung. Bei mir: pure Freude. Für mich war es grandios, Zeitzeuge dieser Entwicklung zu sein und erst recht, sie als frisch ernannter Bereichsleiter Aktuelles für meinen damaligen Sender journalistisch begleiten zu dürfen. Mehr ging wirklich nicht.
Erledigt wurden Mauer und DDR-Regime nicht mit Gewalt, sondern friedlich durch die von ihnen eingesperrten Menschen. "Mit allem haben wir gerechnet", sagte Ex-SED-Grande Horst Sindermann nach der politischen Wende, "nur nicht mit brennenden Kerzen und Gebeten. Die haben uns wehrlos gemacht." Dass diese Revolution erfolgreich war, ist und bleibt ein riesiges Wunder, dass sie vollkommen ohne Blutvergießen ablief, ein ebenso großes. "Nun danket alle Gott", titelte die Bildzeitung damals und sprach damit vielen aus dem Herzen. Hoffentlich werden die Menschen in Deutschland in weiteren 28 Jahren oder 10315 Tagen all das nicht vergessen haben.
Und hoffentlich vergessen all die aktuellen Mauerhüter, Mauerplaner und Mauerbauer nicht, wie schnell solche Bauwerke in der Requisite der Geschichte verschwinden können.