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"Stalinrasen" statt East Side Gallery

9. November 2020

Im Schatten der touristischen Hotspots gibt es überraschend viele Mauerreste. Man muss nur genau hinschauen. DW-Reporter Marcel Fürstenau hat sich auf Spurensuche begeben und lauter stumme Zeugen gefunden.

Deutschland Berliner Mauerweg vor dem Reichstag in Berlin
Auch direkt hinter dem Reichstagsgebäude stand die Berliner Mauer, die am 9. November 1989 fiel Bild: Imago-Images/Steinach

"Wo stand die Berliner Mauer?" Menschen aus aller Welt wollen das wissen. Wenn sie die seit 1990 wiedervereinigte deutsche Hauptstadt besuchen, sind viele enttäuscht, weil sie mehr Mauerreste erwartet haben. Die wenigen Überbleibsel im Zentrum der Metropole sind nur ein klitzekleiner Bruchteil der einst 155 Kilometer langen lebensgefährlichen Grenze zwischen Ost und West.

Der bekannteste und mit 1300 Metern längste erhaltene Abschnitt befindet sich im Szenebezirk Friedrichshain-Kreuzberg direkt am Ufer der Spree. Allerdings vermittelt die von internationalen Künstlern bunt bemalte East Side Gallery mit ihren farbenfrohen, fantasievollen Motiven so rein gar nichts vom oft todbringenden Schrecken der Berliner Mauer.

Was ist von der Berliner Mauer geblieben?

09:10

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Wer mehr darüber erfahren will, dem bleibt nur die zentrale Gedenkstätte an der Bernauer Straße oder das von Yadegar Asisi gestaltete 360°-Panorama am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie. Wem das immer noch zu wenig ist, der kann sich jenseits der touristischen Trampelpfade auf seine ganz persönliche Spurensuche begeben – am besten weit außerhalb der City.

Dort, wo Berlin im Norden, Westen und Süden an das Bundesland Brandenburg grenzt. Verlaufen oder mit dem Rad verfahren kann man sich kaum, weil der Berliner Mauerweg sehr gut ausgeschildert ist.

Selbst wenn die Bäume ihre Blätter verlieren, ist dieser Mauerabschnitt an der Bahnstrecke in Hennigsdorf kaum zu sehenBild: Marcel Fürstenau/DW

Auf dieser Tour, die man an jedem beliebigen Ausgangspunkt beginnen kann, lohnt sich immer wieder ein Blick nach links oder rechts. Gerade im deutschen Herbst, wenn Bäume und Sträucher ihre Blätter verlieren, tauchen manchmal völlig unerwartet Mauerreste auf.

Stumme Zeugen, die vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 Teil der menschenverachtenden Grenzsicherung waren. Ein tief ins Hinterland hineinragender potentieller Todesstreifen aus Beton, Stacheldraht, Signalzäunen und taghell leuchtenden Laternen, an dem auch Hunde Streife liefen.

Stelen erinnern an die vielen Maueropfer

Von alledem ist lediglich der Postenweg weitestgehend erhalten – früher patrouillierten hier die DDR-Grenzsoldaten. Heute bevölkern Spaziergänger, Radfahrer und Läufer die Strecke. Die meisten übersehen dabei indes den etwa 300 Meter langen, lückenhaften Mauerrest parallel zur Bahntrasse in Hennigsdorf.

Um ihn genauer zu inspizieren, muss man sich den Weg durch dornenreiche Stiele von Wildrosen und Büschel von Brennnesseln bahnen. Ein Wagnis, das sich lohnt, denn dahinter werden immer wieder Mauerteile und verrostete Stahlpfosten sichtbar.

Und ein Blick nach oben offenbart mitten zwischen den Bäumen eine heute nutz- und funktionslose Laternen-Leiche. Bis zum Fall der Berliner Mauer sorgte sie dafür, das Sperrgebiet taghell auszuleuchten. So hatten die Grenzsoldaten leichtes Spiel, wenn sie ihre Gewehre auf sogenannte Republikflüchtlinge richten konnten und viele von ihnen erschossen.

Bis zum Mauerfall 1989 verbreitete diese Laterne an der Grenze zwischen der DDR und West-Berlin grelles Licht Bild: Marcel Fürstenau/DW

An die Toten wird entlang des Mauerwegs in Form von orangefarbenen Stelen und Fotos der Opfer erinnert. Zum Beispiel an den 18-jährigen Dietmar Schwietzer, der 1977 von Schönwalde-Glien in der DDR nach Spandau in West-Berlin flüchten wollte. Er starb im Kugelhagel von 91 Schüssen, die tödliche Kugel landete in seinem Hinterkopf.

Dietmar Schwietzer war einer von 136 Menschen, die an der Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 ums Leben kamen Bild: Marcel Fürstenau/DW

Schicksale wie dieses begleiten einen auf dem gesamten Berliner Mauerweg. Zwischen Falkensee und Spandau ist die menschenverachtende Absurdität des einstigen DDR-Grenzregimes unübersehbar. Welche Tragödien sich hier abspielten, wie die Menschen auf beiden Seiten mit der Mauer lebten, ist unter der Überschrift "Spurensuche Mauer" auf Schautafeln dokumentiert.

Eine kleine Dauerausstellung über die Berliner Mauer zwischen dem Bezirk Spandau und Falkensee in Brandenburg Bild: Marcel Fürstenau/DW

Ein greller Kontrast angesichts der idyllischen Landschaft, an deren Rändern nach 1989 neue Einfamilienhäuser und Kinderspielplätze entstanden sind.

Weiter südlich, am Groß Glienicker See in der Nähe von Potsdam, taucht plötzlich ein Mauerrest auf, wie er sonst fast nur noch an wenigen Stellen im Berliner Zentrum zu finden ist: 3 Meter und 60 Zentimeter hoch mit der charakteristischen runden Abdeckung. Für die Menschen in West-Berlin war das der typische Anblick.

Die Berliner Mauer mit der typischen kreisrunden Rolle an dem kleinen Gedenkort am Ufer des Groß Glienicker Sees Bild: Marcel Fürstenau/DW

Diese Bauweise prägt bis in die Gegenwart das Bild von der Berliner Mauer, die in Wirklichkeit viele verschiedene Gesichter hatte. Die DDR-Perspektive sah anders aus: An den meisten Grenzabschnitten stieß man zunächst auf die sogenannte Hinterlandmauer und engmaschige Streckmetallzäune.

"Stalinrasen" soll Flucht aus der DDR verhindern

Manchmal kann man am Standrand unverhofft auch auf fröhlich anmutende Mauerreste stoßen, die in ihrer Farbenpracht an die East Side Gallery erinnern. Ganz im Norden, wo die Berliner Stadtteile Hermsdorf und Frohnau an Glienicke grenzen, sind zwei bunt bemalte Mauer-Segmente übrig geblieben. An dieser Stelle ragte die DDR keilförmig in West-Berliner Gebiet hinein. Im Volksmund wurde dieses absurde Kuriosum "Entenschnabel" genannt.

Farbenfroh und fantasievoll wie an der East Side Gallery wird auch am nördlichen Stadtrand an die Berliner Mauer erinnertBild: Marcel Fürstenau/DW

Wie überhaupt das Leben an und mit der Mauer die sprachliche Fantasie der Menschen inspirierte. Mit zuweilen bitter ironischen und sarkastischen Wortschöpfungen wie "Stalinrasen". Damit waren aber nicht die von DDR-Grenzsoldaten penibel geharkten Flächen zwischen einzelnen Mauerabschnitten gemeint, sondern liegende Metallmatten mit etwa zehn Zentimeter langen Dornen.

Auch dieser lebensgefährliche "Stalinrasen" sollte Menschen daran hindern, die Berliner Mauer zu überwinden Bild: Marcel Fürstenau/DW

Die nach dem sowjetischen Diktator Josef Stalin benannten gitterartigen Teile wurden vor allem in schwierig zu bewachenden Abschnitten der Berliner Mauer eingesetzt. Dazu gehörten wasserreiche, mitunter sumpfige Gegenden.

Zwischen dem Berliner Ortsteil Lübars und Glienicke wurde so ein "Stalinrasen" 2013 bei Erdarbeiten entdeckt. Heute erinnert das Fundstück Spaziergänger in einem Landschaftsschutzgebiet daran, wie gefährlich diese Gegend bis zum Fall der Berliner Mauer war.

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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