Nach fast zwölfstündiger Diskussion und mehreren Wahlgängen haben die 124 Orchestermitglieder keinen neuen Chefdirigenten gewählt. Das deutet auf einen tiefen Richtungsstreit in dem traditionsreichen Klangkörper hin.
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Bei der geheimen Abstimmung war kein Nachfolger für Chefdirigent Simon Rattle (Artikelbild rechts) in Sicht. Das teilte das Orchester auf seiner Website und per Twitter mit. Laut Orchesterstatut hätte eine "deutliche Mehrheit" der Orchestermitglieder für einen Kandidaten stimmen müssen. Unbekannt ist, wie groß diese Mehrheit hätte sein müssen. Die Philharmoniker wollten nun innerhalb eines Jahres wieder zu einer Wahl zusammenkommen, hieß es weiter. Bis dahin solle die interne Diskussion über die besten Kandidaten weitergeführt werden.
Die Orchestermitglieder tagten ab zehn Uhr morgens unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem. Obwohl der Ort geheim gehalten wurde, belagerten Journalisten und internationale Kamerateams stundenlang die Kirche und warteten auf die Bekanntgabe des Wahlergebnisses, die immer wieder nach hinten verschoben wurde. An dem traditionsreichen Ort wurden Hunderte von Schallplattenaufnahmen des Orchesters in der Ära des Chefdirigenten Herbert von Karajan gemacht.
Zwar betonte Orchestervorstand Peter Riegelbauer am überraschenden Ende der Orchesterversammlung, die Diskussionen seien in "freundschaftlicher, kollegialer Atmosphäre" verlaufen. Doch deutlich wird auch: Es gibt tiefe Meinungsverschiedenheiten und einen Richtungsstreit unter den Musikern. Das lässt auch Riegelbauer durchblicken, als er von "ganz grundsätzlich unterschiedlichen Positionen" spricht. Man habe auch über Namen gesprochen, sagt er. "Natürlich hatten wir eine Anzahl von Kandidaten, die in die enge Wahl gezogen wurden - und die werden auch weiter diskutiert", sagt der Kontrabassist.
Die 1882 gegründeten Berliner Philharmoniker gelten als einziges prominentes Orchester der Welt, das seine Chefdirigenten durch die Mitglieder selbst wählen lässt. Das Orchester wird vom Land Berlin subventioniert, gilt aber in seinen Entscheidungen als weitgehend unabhängig. Der Posten gilt als der vielleicht wichtigste in der Welt der Klassik.
Rattle bleibt bis 2018
Der neue Chefdirigent und Musikdirektor der Berliner Philharmoniker wird die Gesamtverantwortung für die künstlerische Leitung des traditionsreichen Orchesters tragen und es dirigieren. Er soll 2018 sein Amt antreten. Rattle ist seit 2002 Chef der Berliner Philharmoniker. 2017 tritt er als Chefdirigent des London Symphony Orchestra an und will dann ein Jahr lang pendeln.
Für seine Nachfolge kommen rund 30 bis 40 Dirigenten in Frage, die regelmäßig am Pult der Berliner Philharmoniker stehen. Andris Nelsons, Gustavo Dudamel, Christian Thielemann und Daniel Barenboim wurden unter anderem als Spitzen-Kandidaten gehandelt.
Wer wird Sir Simons Nachfolger?
Die Berliner Philharmoniker konnten sich im Mai nicht auf einen neuen Chefdirigenten einigen. Nun wird gemunkelt, dass Kirill Petrenko das Rennen machen könnte. Hier sind seine Konkurrenten.
Bild: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images
Präzise und profiliert: Kirill Petrenko, 43
Der kaum 1,60 Meter große, pressescheue russische Maestro leitet die Bayerische Staatsoper München. Der als "sibirischer Mozart" gepriesene Petrenko ist auch ein profilierter Wagner-Dirigent. Dreimal in Folge wurde er zum "Dirigenten des Jahres" gewählt. Äußerst genau sind seine Interpretationen, klingen dennoch nie pedantisch oder langweilig.
Bild: picture-alliance/dpa
Charisma und Integrität: Andris Nelsons, 36
Der jetzige Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra ist auffällig oft als Gastdirigent in Berlin aufgetreten und war bei einer Umfrage des Berliner Konzertpublikums klarer Favorit. Wie einst Simon Rattle, leitete auch er das City of Birmingham Symphony Orchestra. Es macht Spaß, dem jungen Letten beim Dirigieren zuzuschauen: Nelsons bewegt sich so fließend als hätte er keine Knochen im Körper.
Bild: beethovenfest.de/Marco Borggreve
Bodenständig: Gustavo Dudamel, 34
Der noch jüngere Venezolaner, Musikdirektor der Los Angeles Philharmonic, ist aus dem vielgepriesenen "Sistema" seines Heimatlandes hervorgegangen, das sozial benachteiligten Kindern eine musikalische Erziehung bietet. Schwung und Vision gehören zu Dudamels Qualitäten. Sollte er gekürt werden, brächte er - ähnlich wie der Papst - Vitalität aus der Neuen Welt mit.
Bild: Getty Images
Ein deutscher Chef? Christian Thielemann, 56
Der Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden ist auch Künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele. Bekommt er den Chefsessel (oder Dirigentenhocker) in Berlin dazu? Von Thielemann könnte man erwarten, dass er das deutsche Repertoire mit Beethoven, Brahms und Bruckner wieder stärker in den Fokus rückt. Seit der Ära Rattle gibt es da Nachholbedarf, wird gemunkelt.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Tausendsassa: Daniel Barenboim, 72
Ob mit seinem West-Eastern Divan Orchestra, als Pianist oder als Generalmusikdirektor in der Berliner Staatsoper Unter den Linden: Der in Argentinien geborene Israeli weiß sich immer wieder erfolgreich ins Szene zu setzen. Vorteil: Barenboim debütierte mit den Berliner Philharmonikern vor über 50 Jahren und hat mit ihnen die längste gemeinsame Geschichte. Nachteil: sein Alter.
Bild: Santiago Perez
Wärme und Energie: Yannick Nézet-Séguin, 40
Sein Stern steigt und steigt: Der Musikdirektor des Philadelphia Orchestra leitet derzeit auch das Rotterdam Philharmonic Orchestra und gastiert bei den Topadressen der Welt. Der kleine, quirlige Frankokanadier zieht Publikum und Orchestermitglieder in seinen Bann. Nach Leonard Bernstein gab es keinen anderen ähnlich mitreißenden Dirigenten, meinen Beobachter.
Bild: Barbara Frommann
Vielfach preisgekrönt: Mariss Jansons, 72
Der Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München war 11 Jahre lang auch Leiter des "Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam". Unter seiner Leitung wurde es zum besten Klangkörper der Welt gekürt. Der äußerst charismatische, vielgereiste Pultstar tritt öfters im Fernsehen und Radio auf und hat bei vielen CD-Aufnahmen dirigiert.
Bild: picture-alliance/dpa
Stets in der Oberliga: Riccardo Chailly, 62
Wenn es um die bedeutendsten Dirigenten der Welt geht, fällt sein Name immer. Der Italiener ist Leiter des Gewandhausorchesters Leipzig und Musikdirektor der Mailänder Scala. Von 1998 bis 2004 war er auch Chefdirigent in Amsterdam. Einem Wechsel nach Berlin steht aber möglicherweise eins im Wege: Vor Kurzem hat er seinen Vertrag in Leizpig bis 2020 verlängert.