1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zehn Jahre Berliner Prozess: Hoffnung und Ernüchterung

Anila Shuka (Berlin)
8. Oktober 2024

Der Berliner Prozess wurde 2014 als Plattform für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den sechs Ländern des westlichen Balkans und der EU ins Leben gerufen. Er sollte den Weg der Westbalkanstaaten in die EU ebnen.

Westbalkan-Konferenz in Berlin: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Mitte) steht, umgeben von anderen Außenministern der Länder des Berliner Prozesses, in der ersten Reihe. Hinter ihr stehen weitere Außenminister auf einer Stufe. Dahinter sind die Fahnen der Länder zu sehen.
Das Treffen der Außenminister fand bereits am 1.10.2024, vor dem Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs in Berlin stattBild: Dominik Butzmann/AA/photothek.de/picture alliance

Aleksandra Tomanic ist Direktorin des European Fund for the Balkans, einer regionalen Stiftungsinitiative mit Sitz in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Wenn sie eine Veranstaltung im Nachbarland Bosnien und Herzegowina plant, muss sie genau überlegen, ob sie auch Teilnehmer aus Kosovo einladen kann. Denn für Kosovaren ist die Anreise umständlich und zeitraubend. Sie müssen erst in die mazedonische Hauptstadt Skopje reisen, um dort ein Visum für Bosnien und Herzegowina zu erhalten. Das Gleiche gilt umgekehrt auch für Bosnier, die nach Kosovo reisen wollen.

Aleksandra Tomanic, Geschäftsführerin des European Fund for the Balkans in Belgrad Bild: privat

"Dabei wurde doch vor zwei Jahren in Berlin vereinbart, dass die Visapflicht zwischen Bosnien und Herzegowina und Kosovo fallen würde", beklagt Tomanic. In der Tat hatten die Regierungschefs der sechs Westbalkanländer - Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien - im November 2022 drei Abkommen unterzeichnet, mit denen sie gegenseitig Personalausweise sowie Universitätsabschlüsse und manche Berufsqualifikationen anerkannten. Doch bis heute hapert es mit der Umsetzung. "Das ist nicht das einzige unerfüllte Versprechen des Berliner Prozesses", sagt Tomanic.

Eine Ad-hoc-Initiative: Hoffnung für den Westbalkan

Der Berliner Prozess wurde im Jahr 2014 auf Initiative der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Leben gerufen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte zuvor eine "Erweiterungspause" angekündigt. Um die sechs Westbalkanstaaten bei ihrer Annäherung an die EU zu unterstützen, lud Merkel die Regierungen im Sommer 2014 zu einer Konferenz nach Berlin ein. Teilnehmer waren die sechs Westbalkanländer und die Gastgeberländer Deutschland, Österreich, Frankreich, Kroatien, Slowenien und Großbritannien. Inzwischen sind Italien, Griechenland, Bulgarien und Polen dazugekommen. Auch die EU-Institutionen, internationale Finanzinstitutionen sowie die Zivilgesellschaft, die Jugend und die Unternehmen der Region sind beteiligt. Ursprünglich war der Berliner Prozess nur auf vier Jahre angelegt. Doch inzwischen blickt er auf eine zehnjährige Geschichte zurück.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einem EU-Westbalkan-Gipfel im slowenischen Brdo im Oktober 2021Bild: Joe Klamar/AFP

Seit 2014 fanden jährliche Gipfel in verschiedenen europäischen Städten wie Wien, London, Paris, Trieste, Posen, Sofia, Berlin und zuletzt Tirana statt. Die Gastgeberländer fügten jedes Jahr neue Schwerpunkte hinzu, wodurch auch neue Ministerkonferenzen und Themenfelder hinzukamen. Und so gibt es heute jährliche Konferenzen zu wirtschaftlicher Kooperation, Jugendaustausch, Sicherheit, Digitalisierung, grüner Energie, Landwirtschaft sowie Konferenzen über Roma- und Genderfragen. 

EU-Perspektive aufrecht erhalten

Das zehnte Treffen findet nun wieder in Berlin statt und zieht sich über Wochen hin. Seit Juni 2024 wurden in verschiedenen Foren und auf unterschiedlichen Ebenen über diese und weitere Themen gesprochen. Am 14. Oktober 2024 beendet das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs auf Einladung von Bundeskanzler Olaf Scholz die diesjährigen Sitzungen.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock beim Außenministertreffen des Berliner ProzessesBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Der in Berlin lebende Balkan-Experte Bodo Weber sieht in den jährlichen Zusammenkünften eine positive Wirkung des Prozesses: "Regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs sowie der Fachminister sind zur Normalität geworden", sagt er im DW-Gespräch. Das habe dazu geführt, dass die westlichen Balkanstaaten ihre EU-Perspektive aufrechterhalten hätten. Dennoch habe der Berliner Prozess die regionalen Beziehungen nicht dauerhaft stabilisiert. "Serbien, das Kosovo nicht anerkennt, führt weiterhin eine aggressive Regionalpolitik auf der Basis von Srpski svet", so Weber.

Der Balkan-Experte Bodo WeberBild: Privat

Dieses nationalistische Konzept, das von Serbiens Staatschef Aleksandar Vucic vorangetrieben wird, sieht vor, Serben in verschiedenen Ländern des Balkans, insbesondere in Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo, zu vereinen.  Diese Bestrebungen wirken destabilisierend auf die Region.

Kritische Bilanz

Auch die Bilanz von Aleksandra Tomanic fällt kritisch aus: "Zehn Jahre nach seiner Gründung wirkt der Berliner Prozess immer noch sehr improvisiert", urteilt sie. Zwar gebe es zahlreiche Formate und Treffen, doch es fehlten greifbare Ergebnisse, und viele der geschlossenen Abkommen seien nicht umgesetzt worden. "Ähnlich wie bei der EU-Erweiterung bleibt das größte Versäumnis die politische Dimension der Zusammenarbeit, die vernachlässigt wurde", so Tomanic.

Hinzu komme, dass viele Probleme im Berliner Prozess verschwiegen würden, um Kompromisse erreichen zu können. "In Serbien werden die demokratischen Strukturen weiter ausgehöhlt, und Präsident Vucic nutzt den Konflikt, um seine politische Kontrolle zu festigen", kritisiert Tomanic. Vucic lasse Regimekritiker aus anderen Ländern nicht ins Land und habe die Medien sowie die freie Meinungsäußerung geschwächt. Sie ist enttäuscht, dass gerade im Berliner Prozess darüber geschwiegen werde. "Hauptsache, man kann ein weiteres Familienfoto produzieren, das nach Erfolg aussieht."

Vorzeigeprojekte der regionalen Kooperation: RYCO und Roaming

Doch es gibt auch Erfolge: Neben der schrittweisen Abschaffung der Roaminggebühren für Internet und Telefongespräche zwischen den Westbalkanländern gilt das Jugendaustausch- und Kooperationswerk RYCO als eines der Vorzeigeprojekte des Berliner Prozesses. Es hat bisher 31.000 Jugendliche aus der Region zusammengebracht.

Darüber hinaus hat die EU dem Westbalkan durch das Wirtschafts- und Investitionsprogramm 30 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt: Davon wurden bereits 16 Milliarden Euro in Projekte der Infrastruktur, Energie und Digitalisierung investiert.

Allerdings sind die Mobilitätsabkommen, die eine stärkere wirtschaftliche Vernetzung ermöglichen sollten, weitgehend gescheitert. Und der ungelöste Konflikt zwischen Serbien und Kosovo blockiert weiterhin zentrale Fortschritte in der regionalen Zusammenarbeit.

Das Freihandelsabkommen CEFTA

Zum zehnten Jubiläum steht nun ein weiteres Abkommen an: CEFTA, das regionale Freihandelsabkommen, soll die Westbalkanländer enger an den EU-Binnenmarkt binden. Kosovo wird dabei nicht mehr als UN-Protektorat, sondern als eigenständiger Staat anerkannt. 

Der Balkanbeauftragte der Bundesregierung, Manuel Sarrazin, und der Premierminister Kosovos, Albin KurtiBild: Office of the Kosovo Presidency

Kurz vor dem Gipfel gab Kosovos Premierminister Albin Kurti dem Druck des deutschen Balkan-Beauftragten Manuel Sarrazin nach und hob die Blockade für serbische Waren wieder auf, die seit Juni 2023 bestand. Seine Regierung wollte so den Waffenschmuggel von Serbien nach Kosovo unterbinden.

Außenministerin Annalena Baerbock sprach beim vorbereitenden Außenministertreffen von einem "historischen Schritt" für die Region. Doch gleichzeitig dämpfte sie die Erwartungen: "Papier ist dann natürlich das eine, Taten sind das andere. Aber daran messen wir alle Partner dieses Prozesses jeden Tag", erklärte sie.

Baerbock bekräftigte den Willen der EU, die sechs Westbalkanstaaten aufzunehmen. Die EU‑Mitgliedstaaten seien sich einig, dass sie in Europa keine Grauzonen wollten, die der russische Staatschef Wladimir Putin als seinen Einflussbereich betrachten könne. "Wir sind der Ansicht, dass der Beitritt der westlichen Balkanstaaten eine geopolitische Notwendigkeit ist. Für uns sind Ihre Länder keine Grauzonen. Für uns sind Sie Partner - Europäerinnen und Europäer wie wir. Und wir wollen, dass Sie so bald wie möglich der EU beitreten."