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Politik

Berlins bleibende Narbe

Nina Werkhäuser
19. Dezember 2017

Absperrzäune, weiße Rosen und Entschuldigungen: Am Jahrestag des Terroranschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt hielten Politiker und Angehörige gemeinsam inne. Eindrücke von Nina Werkhäuser und Richard Fuchs.

Breitscheidplatz Berlin Jahrestag Anschlag
Bild: Reuters/F.Bensch

Dort, wo der Attentäter Anis Amri vor einem Jahr einen Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt steuerte, liegen weiße Rosen auf dem Boden. Der Himmel über Berlin ist grau, es regnet, dicke Betonblöcke und Polizisten mit Maschinenpistolen schützen das Gelände. Die Buden des Weihnachtsmarkts sind heute verriegelt. Passanten drängen sich vor den weißen Sichtschutzwänden zusammen, versuchen einen Blick auf den geschlossenen Weihnachtsmarkt zu erhaschen. Dann kommt Hektik auf. Schwarze Limousinen fahren vor. Erst der Innenminister, dann der Parlamentspräsident und im Anschluss das Dienstfahrzeug des Bundespräsidenten. Polizisten geben Kommandos. Ein älteres Pärchen, schwarz gekleidete Trauergäste, gibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Hand. Das Paar hält einander fest an den Händen, wohl, um sich Mut zu machen für das, was kommt. Dann betreten sie die Gedächtniskirche.

"Vermeidbare Fehler"

Dort wendet sich der Bundespräsident an die Angehörigen: "Wir können die Tiefe Ihres Leids nicht ermessen und Ihren Schmerz nur erahnen", sagt Steinmeier. "Und doch ist gewiss, dass sehr viele Menschen in Berlin, in Deutschland und weltweit Anteil nehmen an Ihrer Trauer." Der Bundespräsident thematisiert auch die "vermeidbaren Fehler", die die Sicherheitsbehörden im Umgang mit dem Attentäter gemacht hätten, der ihnen als Gefährder und Drogenhändler bekannt war und zeitweise sogar in Abschiebegewahrsam saß. "Die Politik darf nicht zu eilfertig sagen, dass es in unserer offenen Gesellschaft keine vollkommene Sicherheit geben kann", betont Steinmeier. "Unsere Haltung muss sein: Dieser Anschlag hätte nie passieren dürfen."

Steinmeier spricht auch die mangelnde Fürsorge des Staates an. Viele Opfer und Angehörige hatte es getroffen und traurig gemacht, dass nach dem Anschlag niemand für sie da war, dass sie keinen Ansprechpartner hatten und die Kanzlerin keine Zeit für ein Gespräch mit ihnen. Merkel, die ebenfalls gekommen ist, hatte die Angehörigen am Vortag des Jahrestages getroffen. Nun sagt sie, es sei "ein sehr schonungsloses Gespräch" gewesen, das verdeutlicht habe, "welche Schwächen unser Staat in dieser Situation auch gezeigt hat".

Mahnmal im Boden

Nach der Andacht, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat, versammeln sich die Angehörigen vor der Kirche. Auf dem Boden schimmert zwischen den Rosen ein goldfarbener Riss, der den Breitscheidplatz in einer unregelmäßigen Linie durchzieht und auf den Treppenstufen zur Kirche endet. In die Stufen sind in weißer Farbe die Namen der zwölf Opfer eingraviert und, in etwas kleineren Lettern, ihr Herkunftsland. Dazu die Inschrift: "Zur Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags am 19. Dezember 2016. Für ein friedliches Miteinander aller Menschen."

Weiße Rosen neben dem Mahnmal - ein goldener Riss im Boden. Die Namen der Opfer stehen auf den Treppenstufen. Bild: Reuters/F.Bensch

Angehörige haben Fotos und Kerzen dazugestellt. Sie haben auch mitgewirkt an der Entstehung des Mahnmals. Der goldfarbene Riss soll die Wunden symbolisieren, die der Anschlag geschlagen hat. "Der Verlust ist nach wie vor schmerzlich und die Verletzungen sind tief", sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller in einer kurzen Ansprache vor der Gedächtniskirche. Um ihn herum stehen Überlebende, Angehörige der Opfer und Helfer mit Kerzen in der Hand, die sie später entzünden werden. 

"Man schaut anders um sich herum"

Die tiefen körperlichen und seelischen Wunden der Überlebenden und Hinterbliebenen könnten "niemals alle geheilt, aber hoffentlich gemildert werden", betont Müller. Bei allem Schmerz sei er aber auch beeindruckt von den Berlinern, die sich vom Terror nicht hätten einschüchtern lassen und bei vielen großen Veranstaltungen gezeigt hätten, "dass sie weiterhin ihre Freiheit leben". 

Tag des Gedenkens

01:59

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Doch tun sie das wirklich? Im Alltag habe der Terror durchaus seine Spuren hinterlassen, sagt ein älterer Mitarbeiter der Einkaufspassage im Bikini-Haus direkt neben dem Anschlagsort: "Man schaut jetzt schon anders um sich herum, und ja, vielleicht ist das auch gut so." Sein jüngerer Kollege, der mit einer Kontrollmappe die Einfahrt einer Tiefgarage kontrolliert, kommentiert das Großaufgebot an Sicherheitskräften: "Da geht es darum, die ängstliche deutsche Seele zu beruhigen." Angst vor einem erneuten Terroranschlag müsse hier keiner mehr haben, sagt er. Dafür sorge der "Overkill" an Polizisten, Geheimdienstmitarbeitern und Sicherheitspersonal.

Eine junge spanische Touristin und ihre Mutter schlendern auf die beiden Mitarbeiter zu, fragen nach dem Weg zum berühmten "Kudamm". Angst haben sie und ihre Mutter aus Madrid dem Vernehmen nach nicht, auch wenn sie sehr wohl wissen, welche Schreckenstag der Terrorist hier angerichtet hat. Die touristische Neugier sei stärker, sagt die Spanierin: "Das ist doch das Herz Berlins. Das muss ich sehen, wenn ich schon mal da bin." Einige Meter weiter bleibt eine junge Mutter vor den Absperrzäunen stehen. "Es ist ein Tag zum Traurigsein", sagt sie, dann schiebt sie ihren Kinderwagen an Zäunen, Polizisten und wartenden Journalisten vorbei.

Sicherheitsvorkehrungen rund um die Berliner Gedächtniskirche und den BreitscheidplatzBild: Getty Images/O.Andersen

"Ich bitte Sie um Verzeihung"

Am Nachmittag sind die Hinterbliebenen zu einer Gedenkstunde ins Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Hier wendet sich Michael Müller erneut an die Verletzten und Angehörigen der Toten: "Als Regierender Bürgermeister bitte ich Sie um Verzeihung". Ab 20.02 Uhr, dem Zeitpunkt des Anschlags vor einem Jahr, läuteten die Kirchenglocken zwölf Minuten lang - zum Gedenken an die zwölf Todesopfer.

Nina Werkhäuser Reporterin
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