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Literatur

Bernhard Schlink: "Der Vorleser"

Aygül Cizmecioglu
7. Oktober 2018

Wie groß muss die Angst vor der Bloßstellung sein, damit man einen Massenmord gesteht? Diese Frage stellt Schlink in seinem Bestseller. Es ist ein Liebesroman und eine Geschichte von Schuld und Scham. 

Filmstill - "Der Vorleser" mit Kate Winslet, David Kross
Bild: Senator Film/dpa/picture alliance

Ihre Beziehung dauert nur einen Sommer, und sie beginnt mit einer Kotzattacke. Der Gymnasiast Michael Berg übergibt sich vor dem Haus der Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Es ist die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Mitten im prüdesten Adenauer-Deutschland werden der 15-Jährige und die 21 Jahre ältere schweigsame Frau ein Liebespaar. Sie treffen sich heimlich in ihrer Wohnung, baden und lieben sich. Ein Ritual verbindet sie: Michael muss Hanna immer vorlesen.  

"Sie war eine aufmerksame Zuhörerin. Ihr Lachen, ihr verächtliches Schnauben und ihre empörten oder beifälligen Ausrufe ließen keinen Zweifel, dass sie der Handlung gespannt folgte."

"Der Vorleser" von Bernhard Schlink

01:46

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Was als zarte Liebesgeschichte anfängt, endet abrupt mit dem Verschwinden Hannas. Jahre später begegnet der Jura-Student Michael ihr zufällig in einem Gerichtssaal. Sie ist des Massenmordes an Hunderten jüdischen Frauen angeklagt. Die einstige Geliebte eine kaltblütige NS-Mörderin?

Geliebte und Massenmörderin

Langsam lüftet Schlink das Geheimnis um Hanna. Sie ist Analphabetin. Deswegen ließ sie sich so gerne vorlesen. Sie nimmt die Höchststrafe auf sich, nur um ihr großes Geheimnis nicht preisgeben zu müssen – aus Scham, aus Angst vor der Bloßstellung.

In der Romanverfilmung von Stephen Daldry glänzte Kate Winslet in der Rolle der Hanna. Sie bekam für ihre Darstellung 2009 den Oscar als beste Schauspielerin. Bild: picture-alliance/dpa/Senator Film

"Warum? Warum wird uns, was schön war, im Rückblick dadurch brüchig, dass es hässliche Wahrheiten verbarg?"

Michael, der keinen Prozesstag verpasst, durchschaut ihre Schwäche und schweigt trotzdem. Als sie schon längere Zeit in Haft ist, fängt er erneut an ihr vorzulesen, Weltliteratur von Schnitzler bis Tschechow – diesmal auf Kassetten, die er ihr ins Gefängnis schickt.

Erst jetzt überwindet Hanna allmählich ihre Scham. Sie lernt lesen und schreiben und beginnt, ihre Schuld zu ermessen. Der Genozid als Folge mangelnder Bildung? Schlinks Ich-Erzähler, der ältere Michael Berg, reflektiert schuldbewusst. 

Kultur-Pornografie?

Der Autor Bernhard Schlink ist auch Jurist. Viele seiner Bücher kreisen um Schuld und Sühne.Bild: imago/Sven Simon

Bernhard Schlink gelang mit "Der Vorleser" ein weltweiter Bestseller – in 50 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft, zum Schulkanon erhoben. Einige Kritiker warfen ihm trotzdem "platten Aufklärungsoptimismus" und "Kultur-Pornografie" vor. Ausgerechnet eine ungebildete Frau personifiziere die deutsche Schuld, Schlink mache aus einer SS-Schergin eine Identifikationsfigur. 

Dabei liegt gerade in dieser Fallhöhe der Reiz des Romans. Er verweist auf die Banalität des Bösen. Die Täter waren ganz normale Menschen, denen man ihre bestialischen Vergehen nicht ansah. Schlink relativiert mit Hannas Analphabetismus nicht ihre Schuld. Er zeigt vielmehr, wie die menschliche Fehlbarkeit jedes Einzelnen zu einer Katastrophe führen kann. 


Bernhard Schlink: "Der Vorleser" (1995), Diogenes Verlag

Bernhard Schlink, geboren 1944 bei Bielefeld, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Der 1995 erschienene Roman "Der Vorleser", 2009 von Stephen Daldry unter dem Titel "The Reader" verfilmt und mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, begründete seinen schriftstellerischen Weltruhm.

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