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Glaube

Beschneidung ja oder nein - eine unabschließbare Debatte

7. Mai 2017

Am "Welttag der genitalen Selbstbestimmung" demonstrieren viele Menschen gegen die Beschneidung männlicher Minderjähriger. Ihre Argumente sind ernst - die der Befürworter der Beschneidung aber auch.

Beschneidung von Jungen
Bild: Getty Images/AFP/M. Rasfan

Im Mai 2012 sprach das Landgericht Köln ein aufsehenerregendes Urteil: Die Zirkumzision, die teilweise oder vollständige Entfernung der männlichen Vorhaut, sei eine Körperverletzung, erklärten die Richter. Als solche liege sie nicht im Wohl des Kindes und sei durch die religiöse Motivation der Eltern nicht gerechtfertigt.

Das Urteil stieß insbesondere bei jüdischen und islamischen Verbänden auf Kritik. In beiden Religionen gilt die Beschneidung als integraler religiöser Akt: Die Muslime werten ihn als Ausdruck der Religionszugehörigkeit, die Juden gar als Eintritt in den Bund mit Gott.

Entsprechend deutlich äußerten sich die Vertreter beider Konfessionen zu dem Urteil. Würde die Beschneidung in Deutschland verboten, würden Juden in die Illegalität getrieben, "und am Ende wäre jüdisches Leben hier gar nicht mehr möglich", erklärte etwa Dieter Graumann, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland sah in dem Urteil einen "eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und in das Elternrecht."

Im Dezember 2012 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das die Beschneidung des männlichen Kindes auch aus religiösen Gründen für rechtens erklärt und erlaubt, wenn sie von einem Arzt oder ausgebildeten Beschneider vorgenommen wird. Diese Regelung stößt nach Ansicht von Kritikern gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung, da die weibliche Beschneidung in Deutschland ohne Ausnahme verboten ist. 

Seit dem Jahr 2013 wird der 7. Mai - das Datum, an dem das Kölner Urteil fiel - als "Welttag der genitalen Selbstbestimmung" begangen. Ins Leben gerufen wurde er von Beschnittenen gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), dem MOGiS e.V., in dem sich Opfer sexuellen Missbrauchs zusammengeschlossen haben, dem Frauenrechtsverein "Terre des Femmes" und zahlreichen weiteren Organisationen. Regelmäßig gibt es an diesem Tag Aktionen für die genitale Selbstbestimmung von Minderjährigen.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit

Die Befürworter der genitalen Selbstbestimmung argumentieren, dass Minderjährigen dieses Selbstbestimmungsrecht schlichtweg verweigert werde. Männliche Kinder und Jugendliche würden in aller Regel nicht befragt, ob sie willens sind, beschnitten zu werden. Dass dies die Eltern über ihre Köpfe hinweg entschieden, wiegt aus ihrer Sicht umso schwerer, weil die Beschneidung irreversible Folgen hat: Die Vorhaut, ein hochsensibler Körperteil, wächst nicht wieder nach. "Wegen der Tragweite steht eine Entscheidung über nicht-therapeutische chirurgische Eingriffe an den Genitalien nur denjenigen zu, die mit den Folgen leben müssen", so der MOGiS-Vorsitzende Christian Bahls.

Operation bei einer Massenbeschneidung in Malaysia (2011): Irreversible FolgenBild: Getty Images/AFP/M. Rasfan

Aus Sicht der Beschneidungskritiker handeln Eltern darum gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit - und damit auch gegen das Wohl ihrer Kinder. Der an der Universität Passau lehrende Jurist Holm Putzke ist einer der bekanntesten Kritiker der Beschneidung Minderjähriger. "Kindern ohne medizinische Indikation einen gesunden, hochsensibel-erogenen Teil ihres Körpers irreversibel abzutrennen, entspricht nicht ihrem Wohl, zumal sie Schmerzen sowie unnötigen Risiken ausgesetzt werden und der Eingriff, jedenfalls im Kindesalter, keinerlei gesundheitliche Vorteile mit sich bringt", sagte Putzke dem Nachrichtenmagazin "Focus".

Missachtung der Religionsfreiheit

Diese Einstellung wird allerdings nicht von allen Juristen geteilt. Ihre Kritik richtet sich gegen die von Putzke implizit vertretene Auffassung, dass die medizinische Indikation - also zum Beispiel im Fall einer extremen Vorhautverengung - das höchste Maß zur Bewertung der Beschneidung ist.
Der Kölner Richterspruch, so der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, sei verfehlt. Sein Argument: Das Kölner Gericht habe die Religionsfreiheit nicht hinreichend berücksichtigt , die ein sehr zentrales Grundrecht ist, "das grundsätzlich vorbehaltlos und ohne weitere Einschränkung gewährleistet wird." Darüber hinaus tangiere es auch das allgemeine Grundrecht der Eltern auf elterliche Fürsorge. Dieses umfasse auch das Recht der religiösen Kindererziehung.

Bei der Beschneidung, so Papier weiter, gehe es nicht nur um "eine Frage der Tradition und des Brauchtums", sondern viel mehr um "essentielle Glaubensinhalte". Diesem juristischen Gut gegenüber sei die Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit "geringfügig", urteilt der Ex-Verfassungsrichter.

Ein totalitärer Laizismus

Befürworter eines Verbotes der Beschneidung riskieren damit, sich dem Vorwurf auszusetzen, für einen totalitären Laizismus zu stehen. In der Tat blendet ihre Argumentation die Belange von religiösen Menschen komplett aus. Es stellt die laizistische Sicht über die religiöse.

Fresko der Beschneidung Christi aus dem 15. Jahrhundert: Kindeswohl ignoriert?Bild: picture-alliance/Godong

Die Gläubigen wiederum berufen sich auf eine knapp viertausend Jahre zurückreichende monotheistische Tradition, die ihren Ursprung vermutlich sogar in vorgeschichtlicher Zeit hat. Beschneidungsgegner würden den Menschen allein auf seine biologische Existenz verkürzen. Konfessionelle Gründe, so der Vorwurf, ließen die Anhänger des genitalen Selbstbestimmungsrechts nicht gelten. Das Problem: Eine rein biologische Deutung des Menschen lässt sich in letzter Instanz ebenso wenig begründen wie eine, die die menschliche Existenz vorrangig unter religiösen Gesichtspunkten sieht.

Sicherlich kann man Mütter und Väter, die ihre Kinder beschneiden lassen, nicht vorwerfen, dass sie das Kindeswohl komplett ignorieren. Im Gegenteil: Aus Sicht dieser Eltern sind der Glaube und seine Riten, also die religiöse Identität zentrale Grundlage auch für das Lebensglück ihres Nachwuchses. Kritiker halten dem entgegen, die Eltern würden ihre Söhne nicht fragen, ob sie diese Vorstellung von Glück auch teilen.

Pflicht zur Mündigkeit

Philosophisch betrachtet, sind Kinder dem Willen ihrer Eltern ohnmächtig ausgeliefert. Immanuel Kant sprach von einem "Diktat der Geburt". Eben darum, so der Philosoph Ludger Lütkehaus, seien Eltern aber verpflichtet, ihre Kinder zur Mündigkeit zu befähigen. "Für alle Formen der Ausübung der elterlichen Gewalt zumal in religiösen Fragen obliegt es deswegen den Gebern des Lebens, das Ausmaß der Fremdbestimmung über ihre Kinder möglichst klein und ihre künftige Selbstbestimmung möglichst offen zu halten."

Die Frage ist allerdings, ob Eltern, die religiös gebunden sind, die Einbindung auch ihrer Kinder in den Glauben überhaupt als "Fremdbestimmung" wahrnehmen. Tun sie das nicht, wäre ein bestimmter Glaube die einzige Option, die sie für ihre Kinder überhaupt als möglich ansehen. Damit riskieren aber auch sie, sich dem Vorwurf einer fundamentalistischen Weltsicht auszusetzen. Zudem stünde ein solcher Standpunkt in Widerspruch zu einem zentralen Wert der westlichen Moderne: dem Pluralismus. Das Problem ist nur: Auch für diesen gibt es keine Letztbegründung.

Weder die Entscheidung für noch die gegen die Beschneidung kann sich auf letzte Gründe berufen. Was bleibt, ist die Kunst der Toleranz.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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