"Wie in einem toten Körper leben"
6. Februar 2021Shadia Abdelmoneim stand lange unter Schock, konnte niemandem mehr vertrauen. Nach der Geburt ihres dritten Kindes, noch während sie unter Betäubung war, hatte ihre Hebamme sie heimlich beschnitten. Die Sudanesin, die mittlerweile in Deutschland lebt, erinnert sich noch genau:
"Ich wollte auf die Toilette gehen, aber irgendwas stimmte nicht. Ich konnte nicht laufen, hatte große Schmerzen. Als ich sah, was sie getan hatte, war ich schockiert. Sie hatte alles aufgeschnitten und zusammengenäht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte".
Damals war Shadia, die im Sudan als Menschenrechtsaktivistin gegen die Genitalverstümmelung und für die Rechte der Frauen gekämpft hat, Mitte 30. In der Zeit danach hatte sie panische Angst um ihre drei Töchter, konnte sie kaum aus den Augen lassen.
"Wie können Frauen sich so etwas gegenseitig antun? Wie?", fragt Shadia mit Tränen in den Augen. "Beschnitten zu sein, ist wie in einem toten Körper zu leben".
2015 kommt Shadia nach Deutschland. Hier findet sie im Desert Flower Center in Berlin schließlich eine Anlaufstelle. Denn sie leidet unter den medizinischen Folgen der Verstümmelung.
Medizinische Folgen der Genitalverstümmelung
Dr. Cornelia Strunz arbeitet für das Desert Flower Center. Sie berät beschnittene Frauen, zum Beispiel über die Möglichkeiten einer Operation. "Viele Frauen haben nach der Beschneidung Probleme, die Blase zu entleeren. Das Menstruationsblut kann nicht richtig abfließen, der Geschlechtsverkehr ist teilweise gar nicht möglich.Die Frauen können außerdem Fisteln entwickeln, das sind Verbindungen zwischen Organen, die es normalerweise gar nicht gibt - also zum Beispiel zwischen Scheide und Enddarm, sodass sie den Stuhl über die Scheide verlieren. Das ist natürlich mit dem Leben nur schwer vereinbar", erklärt sie.
Auch Shadia wurde hier operiert. Seitdem ist sie schmerzfrei, fühlt sich wieder als "ganze Frau", wie sie sagt. Den Kampf gegen Genitalverstümmelung führt sie seitdem aus Deutschland fort.
Immer mehr von Beschneidung bedrohte Mädchen in Deutschland
Denn sie weiß, dass die barbarische Tradition auch hunderte Kilometer entfernt von der sogenannten FGM-Zone, also den Ländern in Afrika und Asien, in denen Genitalverstümmelung (female genital mutilation) durchgeführt wird, fortbesteht. So fahren viele Familien beispielsweise in den Sommerferien aus Deutschland in ihre Heimatländer oder fliegen die Beschneiderinnen sogar ein, um ihre Töchter diesem Ritual zu unterziehen. Mehr als 17.000 Mädchen sind aktuell in Deutschland von einer Beschneidung bedroht. Die Zahlen steigen, weil in den letzten Jahren vermehrt Geflüchtete aus den betroffenen Ländern nach Deutschland gekommen sind, wie Cornelia Strunz erklärt.
Obwohl es strafbar ist, schrecken die Familien davor nicht zurück. Das bekommt Shadia selbst in Facebook-Gruppen mit, wo Frauen sich über die bevorstehenden Beschneidungen ihrer Töchter austauschen.
Lehrer und Lehrerinnen müssen besser geschult werden
Shadia ist der Meinung, dass die Familien besser aufgeklärt werden sollten. "Wenn die Familien wissen, dass ihnen der Aufenthaltsstatus aberkannt wird, oder sie dafür ins Gefängnis müssen, würden sie das nicht tun. Deutschland könnte hier viel machen", sagt sie. Doch Aufklärungsarbeit kostet Geld.
Die betroffenen Familien aufzuklären ist auch für Charlotte Weil von der Frauenrechtsorganisation "Terre des femmes" ein Schlüssel in der Bekämpfung von FGM. "Zusätzlich müssen wir unbedingt die Fachkräfte schulen, die täglich mit den gefährdeten Mädchen zu tun haben. Viele Lehrerinnen und Erzieherinnen sind nicht gut informiert, sie erkennen nicht, wenn einem Mädchen Gefahr droht", erklärt Weil, "Manchmal fehlt ihnen auch der sensible Umgang mit dem Thema".
Gerade deshalb brauche es eine nachhaltige Finanzierung, um eine umfassende Aufklärungsarbeit zu leisten. "Eine Jahrtausende alte Tradition lässt sich nicht in zwei Jahren abschaffen", mahnt Weil.
Ein erster Schritt zur besseren Prävention von Genitalverstümmelung ist nun eine Koordinierungsstelle, die in diesem Jahr in Berlin ihre Arbeit beginnen soll. Die Gelder dafür stehen schon bereit.