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PolitikUkraine

Leben ohne russischen Pass wird immer schwieriger

4. Mai 2023

Russland zwingt den Menschen in den besetzten Gebieten der Ukraine russische Pässe auf. Bei Ablehnung drohen die Besatzer mit Deportation. Aus Kiew erhalten die Betroffenen unterdessen widersprüchliche Signale.

Eine Frau hält einen Pass der Russischen Föderation
Ein Pass der Russischen FöderationBild: Alexander Reka/dpa/TASS/picture alliance

Eine Kolonne leerer Busse kommt in einen Ort, begleitet von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes FSB. Sie berufen sich auf ein Dekret des russischen Präsidenten über die Deportation von Personen ohne russische Staatsbürgerschaft aus den besetzten Gebieten. "Sie verlangen von den Menschen radikal: Entweder sie verzichten auf ihren ukrainischen Pass zugunsten eines russischen oder ihr Eigentum wird sofort beschlagnahmt und sie selbst umgesiedelt", heißt es in einem Bericht des ukrainischen Generalstabs.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte vor kurzem ein Dekret unterzeichnet, wonach Bürger der Ukraine, die in den von Russland besetzten Teilen der Gebiete Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk leben und die ukrainische Staatsbürgerschaft beibehalten wollen, dort nur bis zum 1. Juli 2024 leben dürfen. Danach können Ukrainer ohne russischen Pass aus diesen besetzten Gebieten deportiert werden.

"Überall kontrollieren und drohen sie"

Dass Ukrainer gezwungen werden, russische Pässe anzunehmen, bestätigen Menschen aus den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Saporischschja, mit denen die DW sprechen konnte. Sie alle wollen aus Sicherheitsgründen  namentlich nicht genannt werden.

"Russische Soldaten haben bei uns alles durchsucht. Als ich meinen ukrainischen Pass zeigte, schrien sie laut, ich solle ihn gegen einen russischen tauschen, ansonsten würde man mir mein Auto wegnehmen und mich deportieren. Sie sagten, das Verfahren sei jetzt einfach und ich müsste nur einen Antrag stellen, dann würden sie in einer Woche wiederkommen, um zu überprüfen, ob ich einen Pass bekommen habe", erzählt ein älterer Mann aus der Region Cherson.

Eine Frau aus der Region Saporischschja sagt weinend, die Besatzer hätten ihr gedroht, ihre minderjährigen Kinder wegzunehmen und nach Russland zu deportieren, wenn sie nicht sofort einen russischen Pass beantrage.

Einer anderen Frau drohten russische Soldaten, ihr "eine Tüte über den Kopf zu stülpen", weil sie sich weigerte, "Bürgerin Russlands" zu werden. "Wir haben bis zuletzt durchgehalten, wir wollten keinen russischen Pass annehmen. Aber es ist einfach unerträglich und beängstigend. Man kann nicht aus dem Haus gehen, überall kontrollieren und drohen sie", sagt die Frau aus der Küstenregion am Asowschen Meer.

"Einer meiner Freunde wurde von den russischen Besatzern brutal geschlagen, weil er sagte, er wisse nicht, wo und wozu er einen russischen Pass bekommen sollte", berichtet ein anderer Mann aus dem besetzten Teil der Region Cherson.

Warum die Eile mit den Pässen?

Der stellvertretende Vorsitzende des Regionalrats von Cherson, Jurij Sobolewskyj, stellt fest, dass der Druck auf die Menschen in den besetzten Gebieten in letzter Zeit erheblich gestiegen ist. "Der Zugang zu medizinischer Versorgung und die Bewegungsfreiheit zwischen den Städten wird für diejenigen, die sich weigern, russische Pässe anzunehmen, eingeschränkt", so Sobolewskyj. Ihm zufolge greifen die Besatzer nun zu Terror, weil es in den besetzten Gebieten nicht so viele Menschen gibt, die freiwillig russische Staatsbürger werden wollen, wie Moskau zunächst erhofft hatte. "Sie haben entschieden, radikal vorzugehen, weil der Kreml bis zum Sommer Ergebnisse sehen will", fügt er hinzu.

Wie das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf eigene geheimdienstliche Quellen berichtet, will Russland offenbar die Integration der besetzten Gebiete in den russischen Staat beschleunigen, um der eigenen Bevölkerung die Invasion der Ukraine als Erfolg zu verkaufen, insbesondere im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2024. "Russland nutzt die Pässe als Instrument, um die besetzten Gebiete zu russifizieren, wie es in Donezk und Luhansk schon vor der Invasion im Februar 2022 der Fall war", heißt es aus London.

Situation im Donbass ist anders

Aljona Lunjowa vom ukrainischen "Informationszentrums für Menschenrechte" merkt aber an, dass die Menschen in den besetzten Teilen der Regionen Luhansk und Donezk seit 2014 nicht auf diese Weise gezwungen wurden, russische Pässe oder Papiere der sogenannten "Volksrepubliken" zu akzeptieren. 2019 begann Russland mit der Verteilung russischer Pässe an die Bevölkerung der sogenannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk. Rund 800.000 Ostukrainer sollen inzwischen die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Diese "Russen" schützen zu wollen war ein Kernargument für die Anerkennung der Separatistengebiete durch den Kreml.

"Jetzt intensiviert Russland auch dort die Vergabe von Pässen, doch nicht so streng wie im Süden der Ukraine. Wohin soll man all die Menschen auch deportieren?", so Aljona Lunjowa. Ihr zufolge erhebt Russland die persönlichen Daten vor allem für die Mobilmachung und zur Kontrolle der dortigen Bewohner.

Werbung für einen russischen Pass in Luhansk im September 2022Bild: dpa/AP/picture alliance

Doch die Menschen hätten Angst, in russischen Datenbanken zu landen, sagt Serhij (Name geändert) aus dem seit 2014 besetzten Ort Chrustalnyj im Gebiet Luhansk. Viele wüssten nicht, was man tun soll. "Immer mehr Arbeitgeber verlangen einen russischen Pass. Für diejenigen, die offiziell nirgendwo arbeiten und keine Leistungen beziehen, hat sich nichts geändert", sagt der junge Mann. Wer aber eine russische "Aufenthaltserlaubnis" beantrage, der liefere sich den Besatzern selbst aus. Dann bestehe auch die Gefahr, in den Krieg eingezogen zu werden.

Widersprüchliche Signale aus Kiew

Sollte man sich einen russischen Pass aufzwingen lassen oder nicht? Dazu gibt es unter den ukrainischen Politikern widersprüchliche Meinungen. Dmytro Lubinez, Menschenrechtsbeauftragter des ukrainischen Parlaments, sagte dazu im Fernsehen, die Ukrainer in den besetzten Gebieten sollten einen russischen Pass annehmen, wenn sie um ihr Leben fürchten, denn die Besatzer würden alle ohne russischen Pass zu Geiseln machen. "Man wird sie in Russland in Gefangenschaft oder in den besetzten Gebieten der Ukraine festhalten", so Lubinez. Er betonte, die Ukraine erkenne aufgezwungene Pässe oder den automatischen Erwerb einer anderen Staatsbürgerschaft in diesen Gebieten nicht an. Auch gehe dadurch die ukrainische Staatsbürgerschaft nicht verloren.

Die Ministerin für Reintegration der besetzten Gebiete, Iryna Wereschtschuk, erklärte hingegen im Fernsehen, die Ukrainer sollten keine russischen Pässe annehmen. "Arbeiten Sie nicht mit den Besatzern zusammen, akzeptieren Sie keine russischen Pässe, fliehen Sie wenn möglich oder warten Sie auf unsere Armee", sagte sie. Auf Telegram schrieb sie ferner, ihr Ministerium appelliere an die russische Seite und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, humanitäre Korridore einzurichten, damit die Menschen in das von Kiew kontrollierte Staatsgebiet kommen können.

Leben unter Besatzung ist kein Verbrechen

"Ich schäme mich und habe Angst, einen russischen Pass anzunehmen, aber ich habe auch Angst, nach Kamtschatka deportiert zu werden. Wir können nicht weggehen, wie uns die ukrainischen Behörden raten, weil wir eine alte kranke Mutter haben. Außerdem wird man unser Auto mit ukrainischen Kennzeichen nicht auf die Krim lassen", sagt verzweifelt eine Frau aus dem besetzten Teil der Region Cherson. Jurij Sobolewskyj vom Chersons Regionalrat bestätigt, dass die Menschen das Gebiet meist nur Richtung Krim verlassen können. Ihm zufolge müssen Ukrainer dort eine Überprüfung durchlaufen und in manchen Fällen wurden Menschen ohne russischen Pass oder mit ukrainischem Autokennzeichen wieder zurückgeschickt.

Die widersprüchlichen Ratschläge ukrainischer Behördenvertreter verwirren nach Ansicht von Aljona Lunjowa die Menschen in den besetzten Gebieten. Sie betont, unter Besatzung zu leben sei kein Verbrechen. "Im Gegenteil, es sollte nicht jeder die besetzten Gebiete verlassen, es darf dort kein leeres Land geben, und wir können nicht vier bis fünf Millionen Menschen aus den besetzten Gebieten wegbringen", so die Expertin für Menschenrechte. Sie fügt hinzu, es sei keine Straftat, unter Zwang einen russischen Pass zu akzeptieren.

Auch die Leiterin der ukrainischen "Östlichen Menschenrechtsgruppe" Vera Jastrebowa weist darauf hin, dass niemand für einen aufgezwungenen russischen Pass zur Verantwortung gezogen werden kann, außer in Fällen klarer Kollaboration. "Die Gesetze sehen einen Schutz bei aufgezwungenen Pässen vor und machen die russischen Pässe ungültig", so die Anwältin, die Menschen aus den betroffenen Gebieten berät.

Unterdessen erklärte der Berater im ukrainischen Präsidialamt, Mychajlo Podoljak, die Ratschläge von Lubinez und Wereschtschuk seien nicht widersprüchlich. Er empfiehlt auf Twitter den Bürgern in den besetzten Gebieten: "Wenn Sie die Möglichkeit haben, keinen russischen Pass anzunehmen, dann versuchen Sie, keinen anzunehmen. Wenn Sie aber einen russischen Pass annehmen müssen, um Unterdrückung und Folter zu vermeiden, dann nehmen Sie einen an." Podoljak versicherte, die Ukraine werde keine Bürger verfolgen, die "passiv die russische Staatsbürgerschaft erhalten haben".

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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