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Politik

"Abstimmung" mit vorgehaltenen Gewehren

28. September 2022

Die russischen Besatzer sprechen von einer Rekordbeteiligung, ukrainische Beobachter von Fälschung. Menschen vor Ort schildern der DW ihre Eindrücke vom Verlauf der Scheinreferenden in den russisch besetzten Regionen.

Ukraine Fake Referendum Donetsk
Keine freiwillige Stimmabgabe: Scheinreferendum in DonezkBild: AA/picture alliance

Die russischen Besatzer haben die Menschen auf der Straße, in improvisierten Wahllokalen und bei Hausbesuchen "abstimmen" lassen. Das berichten Bewohner der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, die von Russland teilweise besetzt sind. Dort fanden ab dem 23. September Scheinreferenden über den Beitritt der Gebiete zur Russischen Föderation statt. Es abzulehnen, an der aufgezwungenen "Abstimmung" teilzunehmen, sei lebensgefährlich gewesen, sagen Bewohner. Denn die Vertreter der sogenannten "Wahlkomitees" seien in Begleitung bewaffneter russischer Militärs erschienen.

"Zwei Frauen und drei russische Soldaten mit Gewehren fragten mich, ob ich abstimmen würde. Als ich fragte, ob ich eine Wahl hätte, schwiegen sie. Ich musste dort ankreuzen, wohin sie mit dem Gewehrlauf zeigten", sagt eine Frau, die in einem Dorf bei Melitopol in der Region Saporischschja lebt. Sie habe nicht abstimmen wollen, habe es dann aber getan, aus Angst, man würde sonst ihren 35-jährigen Sohn in die russische Armee einziehen. "Gut, dass mein Mann und mein Sohn gerade auf dem Feld arbeiteten. Ich will nicht, dass man mir den Sohn nimmt, er steht bei ihnen auf der Liste", erzählt die Frau weinend.

Besatzer sammeln Daten über Bewohner

Diese Listen stellen für die Menschen in den besetzten Gebieten eine Gefahr dar, meint Oleksij Koschel, Vorsitzender der Wählervereinigung der Ukraine. "Sie legen Datenbanken an, denn auch nach sechs Monaten Besatzung haben sie wenig Informationen darüber, wer sich in den besetzten Gebieten befindet", so Koschel. Ihm zufolge sammelten die Besatzer auch während der Scheinreferenden Daten, um die Proteststimmung zu messen. Sie wollten herausfinden, wer eine pro-ukrainische Haltung hat, welche Sprache die Menschen sprechen und welche Männer im wehrfähigen Alter sind.

Demonstration der Macht: Russische Soldaten im besetzten ChersonBild: AP/dpa/picture alliance

Koschel weist darauf hin, dass die Bevölkerung die Besatzer nicht unterstützt. Daran sei schon die Verteilung russischer Pässe und die Einführung des Rubels in den besetzten Gebieten gescheitert. Die Scheinreferenden hätten hastig organisiert werden müssen und hätten unter Personalmangel gelitten. Dem Vorsitzenden der Wählervereinigung der Ukraine zufolge ist die "Abstimmung" chaotisch verlaufen. Zudem hätten die Besatzer zu allen erdenklichen Methoden der Fälschung gegriffen.

"Hohe" Wahlbeteiligung in leeren Städten

Für die sogenannte "Abstimmung" hatten die russischen Besatzer fünf Tage angesetzt. Nach nur drei Tagen meldeten die "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" eine Rekordbeteiligung von bis zu 87 Prozent - mit über einer Million Teilnehmer. "Diese Berichte sind idiotisch und unrealistisch, weil die meisten Einwohner die besetzten Gebiete längst verlassen haben", schreibt der Leiter der Militärverwaltung von Luhansk, Serhij Hajdaj, auf Telegram. Er stellt fest, dass die Besatzer sogar eine Wahlbeteiligung von fast 50 Prozent aus den zerstörten und fast vollständig verlassenen Städten im Osten der Ukraine wie Lyssytschansk, Sjewjerodonezk und Rubischne melden würden. "Die Ergebnisse sind gefälscht", so Hajdaj.

Nicht mal ansatzweise eine geheime Wahl: "Abstimmung" im besetzten LuhanskBild: Privat

Wie das Scheinreferendum im Süden der Ukraine verlief, berichtet Hanna aus Cherson. Ihr zufolge wollten die Besatzer den Propaganda-Medien Bilder einer pro-russischen Bevölkerung liefern. Doch es sei anders gekommen. "Ab 8 Uhr morgens liefen in den sogenannten Wahllokalen sowjetische Lieder und die Organisatoren warteten mit russischen Militärs auf die Wähler. Aber es kamen weder Wähler noch bildeten sich Warteschlangen. Um 10 Uhr wurden die Lokale geschlossen und die Menschen wurden zuhause aufgesucht. Doch niemand öffnete die Tür", sagt Hanna.

Gescheitert seien die Besatzer auch damit, die Menschen mit humanitärer Hilfe zur "Abstimmung" zu locken. "Gekommen sind nur Menschen ab 70 Jahre, die sich die Sowjetunion zurückwünschen. Junge Leute und Menschen mittleren Alters ignorierten diesen Zirkus", berichtet Hanna. Sie versichert, dass sich trotz Terror und Verfolgung pro-ukrainisch gesinnte Menschen in der Stadt befinden. Sie würden auf eine Befreiung durch die ukrainische Armee warten.

Eine 82-jährige Bewohnerin eines Dorfes bei Cherson ließ sich hingegen nicht mit Verlockungen überreden. Sie berichtet, bewaffnete Männer seien zu ihr gekommen und hätten vorgeschlagen, "für den Beitritt zu Russland" zu stimmen. Doch sie habe abgelehnt. "Sie sagten zu mir: 'Großmütterchen, Du kannst 10.000 Rubel (rund 180 Euro) bekommen, auch Lebensmittelpakete. Du musst nur für Russland stimmen.' Ich brauche weder Russland noch Almosen! Im Februar haben sie an der Front meinen Enkel getötet", erklärt die Frau unter Tränen.

"Stimmvieh" auf der Straße gefangen

Der Leiter der regionalen Militärverwaltung von Cherson, Jaroslaw Januschewytsch, stellt fest, dass die russischen Truppen während der Scheinreferenden die Menschen unter Druck gesetzt und bedroht hätten. "Kollaborateure, begleitet von bewaffneten Besatzern, fangen Menschen auf offener Straße und zwingen sie mit Drohungen zur Abstimmung", schreibt Januschewytsch auf Telegram.

Dies bestätigen Einwohner der sogenannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk". Sie berichten, dass beispielsweise im besetzten Luhansk direkt in Hinterhöfen von Wohnhäusern oder an Eingängen von Märkten "Wahllokale" eingerichtet wurden. "Ein Bus fuhr vor, neben ihm wurde eine transparente Wahlurne aufgestellt. Von geheimer Wahl keine Spur. Die Leute kreuzten die Stimmzettel auf ihren Knien an", sagt eine Bewohnerin von Luhansk. Ihr zufolge wurden Beschäftigte kommunaler Einrichtungen gezwungen, mehrmals an verschiedenen Orten "abzustimmen".

Selbst Schwerkranke wurden gezwungen: "Abstimmung" im besetzten BerdjanskBild: AFP/Getty Images

"Uns wurde gesagt, je öfter ein und dieselbe Person abstimmt, desto besser", berichtet eine Frau, die in einer Bildungseinrichtung in Luhansk arbeitet. Sie erzählt, alle Mitarbeiter seien aufgefordert worden, Kopien von Ausweisen von Studenten mitzunehmen, die die Stadt verlassen hätten. Sie sollten an deren Stelle abstimmen. Weil es am Ort der "Abstimmung" keine vorgefertigten Wählerlisten gegeben habe, sei dies einfach gewesen, so die Frau. Allen, die sich geweigert hätten, mitzumachen, sei mit Lohnentzug und Entlassung gedroht worden.

"Referendum" soll Bewohner isolieren

Laut der Wählervereinigung der Ukraine und der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Opora haben die russischen Besatzer für die Scheinreferenden lediglich Listen verwendet, auf denen Personen standen, die freiwillig russische Hilfe annehmen, ihre Rente noch persönlich im Postamt abholen oder als Unternehmer lokale Steuern gezahlt haben. Genutzt wurden auch Wählerverzeichnisse, die aus Archiven entwendet wurden.

Die Leiterin von Opora, Olha Ajwasowska, betont, Russland habe in den besetzten Gebieten der Ukraine eine Fälschung organisiert. "Von einer freien und legalen Willensäußerung kann keine Rede sein. Mit dem Scheinreferendum unter vorgehaltenen Gewehren will Russland die westlichen Partner der Ukraine erpressen", sagt Ajwasowska. Sie glaubt, dass die ersten Leidtragenden dieser "Abstimmung" die Menschen in den besetzten Gebieten sein werden. Russland werde sie völlig isolieren und eine totale Mobilmachung durchführen. Man werde ihnen russische Pässe aufzwingen und den Terror gegen sie weiter verschärfen.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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