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Terrorismus

"Umgang mit kollektiver Verunsicherung"

21. Dezember 2016

Ulrich Wagner registriert im Umgang mit dem Terror eine Art neuer Besonnenheit. Im DW-Gespräch warnt der Sozialpsychologe vor einer Instrumentalisierung des Angriffs durch Populisten – und vor rechter Gegengewalt.

Deutschland Sicherheit Polizist auf Weihnachtsmarkt
Bild: Getty Images/AFP/O. Andersen

DW: Seit rund zwei Jahren sprechen die Sicherheitsbehörden in Deutschland von einer hohen "abstrakten Terrorgefahr". Das hat sich nach den Anschlägen von Paris, Brüssel und Nizza noch verschärft. Und noch mehr nach den Terrorangriffen von Würzburg und Ansbach im Sommer, bei denen allerdings nur die Angreifer selbst ums Leben kamen. In Berlin aber ist jetzt auf grausame Art die abstrakte Terrorgefahr, an die wir uns schon irgendwie gewöhnt hatten, sehr konkret geworden. Was macht das mit einer offenen Gesellschaft wie der deutschen?

Ulrich Wilhelm: Zunächst einmal ist es positiv, dass wir uns über den Verlauf der letzten zwei Jahre nicht ständig übertriebene Gedanken darüber gemacht haben, wie gefährlich die Situation sein könnte. Das hätte sozusagen vorauseilende Befürchtungen ausgelöst, die unser Leben nicht positiv beeinflusst hätten. Umgekehrt kann man - zumindest nach meinem Eindruck - auch nicht sagen, dass die Sicherheitskräfte die Situation völlig unbesorgt betrachtet hätten. Aber: Jetzt ist ein Ereignis eingetreten, eine furchtbare Gewalttat. Das steigert natürlich die Ängste und Befürchtungen in der Bevölkerung massiv. Jeder einzelne von uns ist emotional aufgebracht über diese Ereignisse. Aber: Ich habe den Eindruck, dass es trotzdem ein gewisses Maß an Besonnenheit gibt, mit dieser kollektiven Verunsicherung umzugehen. Anders als bei den vorher gehenden Ereignissen gibt es jetzt viele Stimmen, die sagen: Jetzt lassen wir uns erst recht nicht unterkriegen; wir lassen uns nicht von unserer Angst beherrschen, um denjenigen, die solche Taten begehen, nicht noch Erfolg zu signalisieren.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie in MarburgBild: Laackman Photostudios Marburg

Wie beurteilen Sie die Informationspolitik der Polizei und der Politik sowie die Berichterstattung der Medien?

Mein Eindruck gegenwärtig ist, dass die Informationspolitik der Polizei sehr besonnen ist. Ich finde das gut. Ich habe auch umgekehrt nicht den Eindruck, dass wichtige Dinge, die wir als Bürgergesellschaft wissen müssten, unterdrückt werden.

Die Reaktion der Politik betrachte ich sehr unterschiedlich: Es gibt besonnene Stimmen. Aber es gibt auch heute schon, zwei Nächte nach dem Attentat, Populisten, die reflexartig nach einer Verschärfung von Gesetzen rufen. Es ist abzusehen, das vor allem von der politischen Rechten dieses Attentat instrumentalisiert werden wird. Unabhängig davon, ob der oder die Täter Migrationshintergrund haben oder nicht, wird die Tat in Zusammenhang gebracht werden mit Migranten. Und die Forderung wird lauter werden, restriktivere Einwanderungs-  und Integrationspolitiken zu betreiben. Das halte ich für extrem problematisch, weil unter psychologischer Perspektive das eher noch zu einer Polarisierung in der Gesellschaft führen kann. Unter ungünstigen Bedingungen kann das die Zahl gewaltbereiter Täter möglicherweise noch vergrößern. 

Stunde der Populisten? Tweet von AfD-NRW Chef Marcus Pretzell kurz nach dem TerroraktBild: Twitter/Marcus Pretzel

Die Berichterstattung der Medien scheint mir deutlich besonnener zu sein, verglichen mit der Berichterstattung in Zusammenhang mit den Gewalttaten in München. Die war völlig überzogen und überdreht. Die Medien scheinen auch reflexiver zu sein: Viele Gespräche, die ich mit Medienvertretern führe, deuten darauf hin, dass ein starker Reflexionsprozess eingesetzt hat zu der Frage: Was machen wir da eigentlich?

In den sozialen Netzwerken wird die von Ihnen befürchtete Polarisierung der Gesellschaft schon sichtbar: Nach der Todesfahrt vom Breitscheidplatz gibt es auf der einen Seite sehr viel Anteilnahme und Betroffenheit, auf der anderen Seite aber auch Hass und Hetze gegen Politiker und Migranten. Was geschieht da sozialpsychologisch betrachtet? 

Soziale Netzwerke dienen ja nur an zweiter Stelle dazu, einigermaßen objektivierbare Informationen in die Welt zu setzen. Sie sind eigentlich ein Medium der Meinungsäußerung. Selbst in diesem Bereich sind soziale Netzwerke eingeschränkt. Weil gerade bei polarisierenden Themen soziale Netzwerke nur noch dazu dienen, die eigene Meinung zu bestätigen und gelegentlich unqualifizierte Beleidigungen in Richtung der anderen Meinungsgruppe los zu werden. Soziale Netzwerke dienen dazu, sich in den eigenen Überzeugungen gegenseitig zu bestärken. Das ist eine grundsätzliche Tendenz, die wir als Menschen haben. Wir sind gar nicht so sehr daran interessiert, unsere eigene Meinung kritisch zu überprüfen: "Könnte ich mich vielleicht irren?". Sondern wir sind sehr viel stärker daran interessiert, unsere eigene Meinung zu bestätigen. Und je stärker aufgeheizt ein Thema ist, umso stärker ist dieser Prozess. Deshalb ist zu vermuten, dass nach den ersten Stunden und Tagen der Zurückhaltung dieser Polarisierungsprozess in den sozialen Medien eher noch sehr viel stärker werden wird. 

Deutschland trauert, auch in den sozialen Netzwerken Bild: DW/F. Hofmann


Kann es sein, dass dadurch auch eine Art geistiger Nährboden für Gewaltakte von Rechts bereitet wird?
Absolut! Die Unterstützung, die sich potenzielle Gewalttäter für ihre anschließenden Gewalttaten holen, kommt sehr häufig aus den sozialen Medien. Entweder aus Interaktionsplattformen oder aber auch ganz banal durch die immer wiederholte Rezeption von bestimmten Gewalttaten. Gewalttäter lernen auch am Modell, wie man so etwas macht. Der völlig unkontrollierte Austausch von Meinungen, von falschen Meinungen und von bewusst falsch eingesetzten Informationen ist eine ganz wichtige Quelle für die Entstehung und Verschärfung von Gewalt. Angefangen von ganz banaler, völlig unpolitischer Gewalt, hin zu Amokläufen, die ihre Vorbilder auch im Netz holen und ganz wichtig im Zusammenhang mit terroristischer Gewalt, die auch auf die Rekrutierung im Netz zurück greift. 

Der Schutz der Bevölkerung ist eine der Kernaufgabe des Staates. Aber es gibt eben keine absolute Sicherheit. Das hören wir auch schon seit Jahren. Muss man sich an Terrorattentate als Teil des normalen Lebensrisikos im Europa des 21. Jahrhunderts gewöhnen?

Ein gewisses Risiko besteht immer. Aber wir sind natürlich auch im Alltag ganz banalen Risiken ausgesetzt - etwa, dass wir im Straßenverkehr vom Auto überfahren werden. Das wird man nicht aus der Welt bekommen. Was wir momentan beobachten, was der politische Reflex ist: Nach Maßnahmen zu greifen, die die tatsächliche Ausführung solcher terroristischer Gewalttaten unterbinden soll. Das heißt: massiver Einsatz von Polizei. Wenn wir uns aber anschauen, was in Berlin passiert ist, oder im Sommer in München, oder auch die Axtattacke in dem Regionalzug in Würzburg: Der Einsatz von Polizei wird bestimmte Gewalttaten nicht verhindern können. Umso wichtiger ist es, den Blick darauf zu werfen: Welche Möglichkeiten hat man, um im Vorfeld solche Gewaltattacken in den Griff zu bekommen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Zahl der potenziellen Gewalttäter zu reduzieren. Das heißt: Primäre Prävention. Das bedeutet: Menschen in Situationen bringen, in denen sie nicht mehr so empfänglich sind für Internet-Überredungen zu terroristischen Attacken. Es gibt eine Reihe primärer Präventionsmaßnahmen, die man einleiten kann. Das zeigt natürlich nicht unmittelbaren Erfolg; das sind langfristige Entwicklungen. Damit sind wir manchmal als Bürger unzufrieden. Wir wollen sofort Maßnahmen sehen. Solche langfristigen Maßnahmen sind auch für die Politik nicht so attraktiv: Man kann sie sich nicht sofort als Erfolg in einer bestimmten Legislaturperiode auf die Fahnen schreiben. Diese Maßnahmen zeigen erst langfristig Erfolge. Aber wenn wir versuchen wollen, das Gewaltniveau in unserer Gesellschaft zu senken - banale Gewalt, Amokläufe, terroristische Gewalt, sind langfristig gesehen solche primären Interventionsmaßnahmen deutlich effektiver, als zu versuchen, Gewalt nur durch den Einsatz bewaffneter Polizei im Griff zu behalten.

Gegen Gewalt immunisieren: Primäre Prävention setzt sehr früh anBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Wir als Bürger begehen üblicherweise nicht deshalb keine kriminellen Akte oder keine Gewalttaten, weil ständig ein Polizist in unserer Nähe steht, sondern weil wir gemeinsam davon überzeugt sind, dass wir bestimmte Regeln einhalten müssen. Dahin müssen wir kommen.

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