Besser küssen mit vollen Lippen?
5. Juli 2025
Der Schönheitstrend "volle Lippen" hat längst die Social-Media-Plattformen verlassen - auch auf den Straßen sieht man immer häufiger Menschen mit aufgespritzten Lippen.
Volle Lippen stünden für Jugend, für Fruchtbarkeit und gälten damit als sexuell attraktiv, sagt Helge Jens, Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie. "Rosige, volle Lippen wirken vital, während schmale, trockene, farblose oder faltige Lippen eher Krankheit und Alter symbolisieren."
Lippen spielten in unserem Gefühlsleben eine große Rolle, erläutert Psychotherapeut Wolfgang Krüger. "Küssen ist die beste und die intimste Möglichkeit, Nähe herzustellen."
Es sei sogar intimer und sinnlicher als Sex, meint der Experte. Denn beim Küssen kämen sich die Gesichter ganz nah, man fühle sich mit der anderen Person innerlich verbunden. "Das merkt man auch, wenn Beziehungen schwieriger werden. Das Erste, das leidet, ist das romantische Küssen."
Wer lässt sich die Lippen aufspritzen?
"Die überwiegende Zahl sind junge Frauen, die einem bestimmten Schönheitsideal nacheifern wollen", sagt Helge Jens. Inspirationsquelle seien oft Beispiele aus den Sozialen Medien. "Die Patientinnen kommen tatsächlich mit ausgedruckten Bildern oder mit Handy-Fotos in die Praxis und sagen, dass sie es gerne genauso hätten." Ein Trend, den er problematisch findet, da die Lippen auch zum Gesicht passen müssten.
Zu Christiane Bayerl dagegen kommen hauptsächlich Frauen ab den Wechseljahren, denn: "Die Lippen werden schmaler mit dem Alter." Schmale Lippen könnten als verkniffen empfunden werden, sagt die Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie an den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden.
Der Schönheitstrend hat längst nicht nur Frauen, sondern auch Männer erfasst. Sucht man mit den entsprechenden Stichworten im Netz, stößt man auf eine Fülle von Angeboten.
Etwa eine "exklusive Lippenvergrößerung, mit einem natürlich schönen Ergebnis für den Mann." Denn "Sinnliche Lippen sind eben nicht nur etwas für Frauen", heißt es auf den entsprechenden Seiten. Betont wird häufig, dass die "Lippenkorrektur für Männer .. "Sie nicht feminin aussehen lässt."
Lippenvergrößerungen – nicht nur in Arztpraxen
Nicht immer würden Lippenkorrekturen von ärztlichen Fachleuten durchgeführt, berichtet Helge Jens, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) ist. "Zum Beispiel bei Kosmetikerinnen oder in speziellen Schönheits-Instituten." Denn in der Regel werde bei der Behandlung Hyaluronsäure in die Lippen gespritzt. Das dürfe so gut wie jeder, da der Stoff nicht medikamentös verordnet werden muss.
Auch wenn eine Lippenvergrößerung also in der Regel ohne Operation und Skalpell stattfindet, kann sie durchaus Gefahren bergen. Blutgefäße etwa können sich verschließen, wenn die Lippen bereits zuvor behandelt wurden, sagt Hautärztin Christiane Bayerl. Frauen, die schon "Schlauchboot-Lippen" haben, schicke sie deswegen manchmal wieder nach Hause.
Häufige Nebenwirkungen sind laut Bayerl blaue Flecken, wenn beim Spritzen ein kleines Blutgefäß erwischt wird. "Es kann auch passieren, dass es unsymmetrisch wird und bei einer erneuten Behandlung korrigiert werden muss." Hinzu komme die Gefahr von Infektionen und - in sehr seltenen Fällen - von Gefäßverschlüssen, die unbedingt behandelt werden müssten, damit sie keine schweren Folgen haben.
"Bloß weil ein Großteil der Behandlungen gut geht, ist es nicht harmlos", sagt auch Chirurg Helge Jens. "Man muss schon über genaue Anatomiekenntnisse verfügen, um zu wissen, wo man Hyaluronsäure spritzen kann, so dass es den gewünschten Effekt hat."
Macht das Küssen mit vollen Lippen mehr Spaß?
Zumindest als küssende Person spüre man allein durch vergrößerte Lippen beim Küssen wahrscheinlich keinen Unterschied, meint Bayerl. Wenn die Lippenvergrößerung sehr ausgeprägt sei, könne sich das sogar eher negativ auf das Empfinden auswirken.
Der Grund: Unsere Lippen enthalten Nervenenden, die sie empfindlich für Wärme, Kälte und Berührungen machen. "Diese werden durch das Aufspritzen ja nicht mehr, sondern müssen sich über eine größere Oberfläche verteilen", erläutert Jens.
Ob es allerdings (noch) schöner ist, von vollen Lippen geküsst zu werden, dürfte bisher medizinisch wohl noch nicht erforscht sein.
Wichtiger als das rein Äußerliche sei für die attraktive Wirkung auf andere Menschen sowieso viel mehr die Art, wie eine Person lebe, sagt Psychotherapeut Krüger. "Ich denke, man sieht einer Person an, ob sie eine sinnliche Bereitschaft hat zu küssen."
Wenn jemand dagegen viele Probleme habe, angespannt und zurückhaltend sei, zeige sich das irgendwann auch in den Gesichtszügen. "Die betreffende Person wirkt schmallippig." An diesem Ausdruck könne eine Lippenkorrektur nur sehr vordergründig etwas ändern.
Warum küssen wir Menschen überhaupt?
Warum Menschen dieses Verhalten entwickelt haben, lasse sich aus wissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig beantworten, sagt Wolfgang Enard, Experte für evolutionäre Anthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Eine prominente Idee ist, dass der Kuss über die Weitergabe von Nahrung, also das Vorkauen, entstanden ist." Außerdem gebe es die Theorie, dass Küssen die Funktion habe, Bakterien auszutauschen und dadurch das Immunsystem zu stärken.
Für plausibler hält Enard aber eine andere Theorie: "Bei den Schimpansen läuft die soziale Interaktion ganz viel über die Fellpflege. Man laust sich." Beim Menschen sei das Fell aber verschwunden, und der Kuss habe sich als Überbleibsel der Fellpflege entwickelt. Egal, ob romantischer Kuss, ein zärtlicher Kuss der Eltern oder ein freundschaftlicher Kuss zur Begrüßung auf die Wange: "Es ist immer ein starkes soziales Signal".
Mit Material der dpa