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Gesellschaft

Ein ganzer Ort für Hilfsbedürftige

Vera Kern
17. April 2017

Hilfe für Kranke, Alte und Menschen mit Behinderung: Bethel kümmert sich seit 150 Jahren um Hilfsbedürftige. Zum Jubiläum kommt auch Bundespräsident Steinmeier in die "Stadt der Barmherzigkeit" nach Bielefeld.

150 Jahre Bethel: Behindertenwerkstatt "Verpackung und Montage"
Bild: DW/V. Kern

Ivonne Rausch packt in der Abteilung "Verpackung und Montage" sorgfältig Schrauben, eine Bauanleitung und andere kleine Montageteile in Plastiktütchen. Es ist Verpackungsmaterial für Möbel. Später sollen damit Hängeregale zusammengebaut werden. "Mir gefällt meine Arbeit", erzählt Ivonne Rausch, Kurzhaarschnitt, kräftige Statur, neugieriger Blick. "Wenn ich meine Anfälle habe, bin ich hier gut aufgehoben", sagt sie. Seit über zehn Jahren arbeitet die Epileptikerin in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Bethel, einer sozialen Einrichtung in Bielefeld.

Epileptikerin Ivonne Rausch schätzt ihren ArbeitsplatzBild: DW/V. Kern

Ivonne Rausch hat hier nicht nur eine sinnvolle Arbeit gefunden, sondern auch Freunde. "Besser kann man es nicht haben, wenn man Epilepsie hat", konstatiert sie.

Nach Feierabend geht sie manchmal mit Kollegen zum Tanzen in die Disko in der "Neuen Schmiede". In dem Kultur- und Begegnungszentrum werden auch die Auswärtsspiele von Arminia Bielefeld auf einer großen Leinwand übertragen. Dann kommen alle zusammen. Der Fußball-Zweitligist hat hier in Bethel eine riesige Fangemeinde.

Eigener Radiosender, eigene Währung

Das Herz von Bethel sitzt seit jeher in Bielefeld-Gadderbaum. Noch heute ist die Geschichte an jeder Ecke sichtbar. Bethel, hebräisch für "Haus Gottes", ist eine ganze Ortschaft: Hübsche Backsteingebäude, postkartentaugliche Fachwerkhäuser, viel Grün, idyllische Lage zwischen Bielefelder Innenstadt und Teutoburger Wald. Wer alles sehen möchte, muss Zeit mitbringen. Die verschiedenen sozialen Einrichtungen erstrecken sich auf 3,5 Quadratkilometern: Krankenhäuser, Altenheime, Werkstätten für Behinderte, eine Hochschule, Kindergärten und Schulen, Hospize, ein Secondhand-Kaufhaus.

Bethel verfügt fast über eine komplette Infrastruktur. Sogar einen eigenen Radiosender, "Antenne Bethel " hat die Ortschaft. Jeden Abend um 18 Uhr wird eine Stunde lang eine Live-Sendung ausgestrahlt. Am Mikrofon sitzen dann auch Menschen mit Behinderung. Und dann ist da noch der "Bethel-Euro", ein Warengutschein, mit dem Mitarbeiter fünf Prozent Rabatt kriegen. Eingelöst werden kann die Währung unter anderem in der Bethel-Gärtnerei, auch Dienstleistungen wie Malerarbeiten können damit bezahlt werden.

Eine Stadt in der Stadt: Bethel ist riesigBild: picture-alliance/dpa/F. Gentsch

Eine europäische Größe

"Gemeinschaft verwirklichen" lautet das Motto der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Sie engagiert sich für behinderte, kranke, pflegebedürftige und sozial benachteiligte Menschen - und das seit 150 Jahren. Gegründet wurde Bethel vom evangelischen Pastor Friedrich von Bodelschwingh. Es begann mit einer Heilanstalt für epilepsiekranke Kinder und Jugendliche. Später kamen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und psychisch Erkrankte hinzu.

Bethel war damit der erste Ort in Deutschland, an dem mehrere soziale Einrichtungen an einem Fleck liegen. Heute sind die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel eine der größten diakonischen Einrichtungen Europas. 18.500 Mitarbeiter arbeiten an 280 Standorten in acht Bundesländern.

Letzte Station "Haus Zuversicht"

Für manche ist Bethel auch die letzte Station auf ihrer Lebensreise. Im "Haus Zuversicht", einem Hospiz, ist Platz für zehn schwerstkranke Menschen. "Wenn ich das Haus betrete, schaue ich zuerst: Brennt die Kerze?", sagt Hospiz-Leiterin Ulrike Lübbert. Wenn einer der Gäste, wie die Bewohner hier genannt werden, stirbt, brennt die Kerze im Flur.

Im Hospiz "Haus Zuversicht"Bild: DW/V. Kern

Im Haus herrscht eine ruhige, freundliche Atmosphäre. In der großen Gemeinschaftsküche steht ein Klavier, auf dem Tisch Osterglocken, bunte Bilder an der Wand, draußen ein angelegter Garten. Am langen Tisch hat ein Mann Anfang 60 in seinem Rollstuhl Platz genommen. Seit einer Woche sei er im Hospiz, erzählt er, der Tumor im Kopf sei stark gewachsen: "Die lassen einen hier nicht im Stich, die sind rund um die Uhr für einen da." Das Reden fällt ihm bereits schwer. Er weiß, dass es nicht mehr lange gehen wird. "Das ist eine gute letzte Stelle", sagt er. Dann lässt er sich für eine Zigarette auf die Terrasse schieben.

Die dunklen Jahre

Zur langen Geschichte von Bethel gehören aber auch die dunklen Jahre während des Nationalsozialismus. Die Nazis ließen psychisch Kranke und Behinderte systematisch töten. Auch Bethel geriet ins Visier. Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, was genau damals geschehen ist. Nach dem Euthanasie-Befehl wurden Pflege- und Heilanstalten aufgefordert, Meldebögen mit Auskünften über ihre Bewohner auszufüllen. Der damalige Leiter von Bodelschwingh soll diese zunächst leer zurückgeschickt haben, um seine Bewohner zu schützen. Später soll jedoch eine Liste erstellt worden sein, die die Bewohner nach Leistungsfähigkeit einteilte.

Der Historiker Matthias Benad vermutet in einer Bethel-Publikation, dass dadurch auch Bethel-Bewohner Opfer der Nazis wurden. Zudem sollen über 1000 Behinderte und Kranke zwangssterilisiert worden sein. Heute erinnert eine Stele auf dem zentralen Bethelplatz daran.

Von der Barmherzigkeit zur Inklusion

Bethel, die "Stadt der Barmherzigkeit" ist heute längst im 21. Jahrhundert angekommen. "Wir wollen keine Stadt mehr in der Stadt sein", sagt Silja Harrsen von der Pressestelle. Die "Stadt der Barmherzigkeit" mit ihren Häusern, die biblischen Namen tagen, werde sich verändern. Schon jetzt entstehen zwischen all den Kliniken und Werkstätten auch Privatwohnungen. Inklusion, gemeinsam miteinander leben, heißt das große Stichwort heute.

"Wir sind ein bisschen ein Dinosaurier", aber abgesehen von der Größe habe Bethel auch inhaltlich etwas zu bieten, so Bethel-Sprecherin Harrsen. 150 Jahre nach der Gründung wolle man auch ein Beispiel für gute und moderne Behindertenhilfe sein. 

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