Bewahren wir das Band des Friedens
10. Oktober 2015 Tomaten von der Neiße
„Warum sind die Tomaten aus Holland so viel besser als unsere hier von der Neiße?“ An diesen Anruf vom Sommer 1990 musste ich denken, als wir vor einer Woche, am 3. Oktober, 25 Jahre Deutsche Einheit gefeiert haben. Die Anruferin von damals baut immer noch Tomaten in ihrem Garten im östlichsten Teil Deutschlands an. Inzwischen aber mit mehr Selbstbewusstsein und der Überzeugung , dass nicht alles gut und besser ist, weil´s aus dem Westen kommt.
25 Jahre Deutsche Einheit - für die ganz Jungen heute so selbstverständlich, dass sie nicht weiter darüber nachdenken und von der DDR kaum mehr etwas wissen. Geschichte. Aber was für eine!
Ich habe etliche Frauen und Männer in Ost und West danach gefragt, was sie mit der Deutschen Einheit verbinden und woran sie sich besonders erinnern. Davon möchte ich erzählen.
Freiheit und Schuld
Einer, der als Oberschüler in den 60iger Jahren getürmt ist, hat die DDR nie aus den Augen und die Menschen dort nicht aus dem Herzen verloren. Das ist Spinnerei, sagten ihm viele, wenn er in seiner neuen Heimat von Wiedervereinigung träumte. Er hat Recht behalten und ist glücklich darüber. Dennoch ist seine Freude bis heute zwiespältig. Das Tempo der Vereinigung sei zu hoch gewesen. Und die Erwartungen, die die Versprechen der „Blühenden Landschaften“ geweckt hatten, mussten enttäuscht werden. So sind den Träumen von der Freiheit die Flügel gestutzt worden.
„Ach nein,“ sagt eine junge Mutter aus dem Erzgebirge, „es ist unfassbar, es ist ein Wunder! Ich bin in der Diktatur aufgewachsen und dachte, da komme ich nie mehr heraus! Nun bin ich frei, konnte Theologie studieren, was ich immer wollte. Und kann reisen, wohin ich will – ganz egal, ob ich das auch tu!“ Auch viele im Westen packt immer wieder die Reiselust. „Wir können die Kultur wieder teilen voller Freude und Ergriffenheit – ohne feindselige Kontrollen,“ meint eine Lehrerin aus Bayern. Einfach nach Weimar fahren oder nach Wittenberg und Goethe besuchen oder Luther.
Die Tomatengärtnerin von der Neiße staunt immer noch, dass alles offen ist und frei und die garstige Mauer weg ist. Um so erschrockener ist sie, dass zur Zeit wieder neue Mauern gebaut werden gegen Menschen, die in unser Land fliehen. Sie schämt sich für den Fremdenhass, der ausgerechnet in Teilen Ostdeutschlands wieder aufflammt. „Ob das noch damit zusammenhängt“, meint sie, „ dass wir alle überfordert waren, weil so viel Neues auf uns einströmte und zu lernen war?“ Die Reglementierung fiel weg und die bunte Vielfalt an Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, verstört bis heute. Vielen macht Fremdes Angst und fremde Menschen erst recht. Begegnung mit fremden Kulturen und Menschen war 40 Jahre lang nicht möglich und darum nicht eingeübt.
Die Filmemacherin, die in ihrer Arbeit vom Thema DDR gar nicht loskommt, habe ich gefragt, was ihr beim Thema Deutsche Einheit besonders wichtig sei. Aufarbeitung tut not. Aufarbeitung dessen, was da wirklich passiert ist an Unrecht in der DDR. Nur die direkt Betroffenen wissen davon. Für alle anderen ein drückendes, ein bedrückendes Geheimnis. Eigentlich war alles geheim: 250.000 politische Häftlinge – wer hörte davon? Dunkle Ahnungen gab es, dass manche von der Bundesregierung freigekauft werden konnten. „Für 3,6 Milliarden DM haben wir 33,775 politische Häftlinge verkauft“, so drückte es neulich ihr gegenüber ein ehemaliger Offizier der Staatssicherheit aus. Es gibt noch viel aufzuarbeiten!.
Bei Vielen gab es eine innere Wende nicht, musste geradezu erschrocken eine Lehrerin feststellen, die – weil sie Pfarrfrau war – erst nach 1989 wieder Dienst tun durfte. Die damals ganz jungen Lehrer unterrichten heute noch. Beunruhigend findet sie das. Das kann eine Freundin aus Westdeutschland bestätigen. Sie ist so froh und dankbar, dass die Einheit gekommen ist, aber nicht, wie sie gekommen ist. Es sei alles viel zu schnell gegangen. Man hat den Menschen keine Zeit gelassen, nachzudenken, was war, was ist, was werden soll. Alles Überlegen wurde kapitalistisch überdeckt. Und das ist eine große Schuld des Westens. Es gab zu viele Geschäftemacher und heraus kam eine ratlose Gesellschaft.
Das Band ist nicht gerissen
Darunter leiden beide Teile Deutschlands, die doch nun seit 25 Jahren vereint sind. Wir brauchen einander immer noch und immer wieder mit Rat und Tat und Anteilnahme. Christen haben das auch schon vorher in den langen Jahren der Trennung gewusst und gelebt. Eine „Gemeinschaft der Heiligen“, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, Christen, die sich nicht kannten und doch zusammengehörten, besuchten einander, bildeten Patenschaften in vielen Kirchengemeinden, halfen, trösteten, ermutigten. Sie stärkten einander im Glauben in glaubenslosen Zeiten. Nicht zur Freude der DDR-Regierung. Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens, wie es im Epheserbrief heißt. Ich erlebe immer wieder, dass dieses Band bis heute nicht abgerissen ist.
Zur Autorin:
Renate Kirsch (Jahrgang 1937) lebt in Oberbayern, in Brannenburg am Inn. Sie ist in Duisburg geboren und studierte Germanistik sowie evangelische Theologie und war dann als Deutsch- und v.a. als Religionslehrerin am Gymnasium tätig. Von 1988 bis 1992 sprach Renate Kirsch in der ARD das „Wort zum Sonntag“. Seit vielen Jahren ist sie in der kirchlichen Rundfunkarbeit, in der Erwachsenenbildung und beim Weltgebetstag der Frauen (jedes Jahr am 1. Freitag im März) tätig. Renate Kirsch ist mit einem Pfarrer verheiratet und sie haben drei mittlerweile erwachsene Kinder.
Kirchliche Verantwortung: Pfarrer Christian Engels