Bhopals Umweltkatastrophe
18. Dezember 2012Um Hazira Bee hat sich eine Menschentraube gebildet: Männer mit ernsten Gesichtern, Frauen in bunten Saris und mit kleinen Kindern an der Hand. Die 57-jährige Aktivistin erzählt den Anwohnern in einem Viertel im Norden Bhopals, was die meisten schon lange vermuten: Das Wasser, das sie täglich trinken, ist verseucht - mit Blei sowie anderen Schwermetallen und giftigen Stoffen.
Aus der alten, stillgelegten Pestizidfabrik von Union Carbide direkt nebenan dringen gesundheitsgefährdende Chemikalien ins Grundwasser. Jahrelang hat das US-Unternehmen auf dem Gelände seinen Müll verklappt, erzählt die Aktivistin Hazira Bee von der "International Campaign for Justice in Bhopal" (Internationale Kampagne für Gerechtigkeit in Bhopal).
Einige Kommunen werden deswegen mittlerweile mit sauberem Wasser versorgt. Nach jahrelangem Protest der Anwohner und erfolgreicher Klage vor dem Obersten Gericht ließ die Regierung neue Wasserleitungen legen - aus 30 Kilometern Entfernung.
Kampf um sauberes Wasser
Doch viele Nachbarkommunen sind leer ausgegangen, erzählen einige aufgebrachte Anwohner. Die Regierung habe zwar alle Handpumpen abmontiert und Brunnen geschlossen, neue Leitungen wurden aber nicht gelegt. Jetzt stehen die Bewohner ohne Wasser da. "Wir gehen in die Häuser der Nachbarkommune und müssen dort Wasser kaufen", erzählt eine junge Frau.
Umweltaktivisten warnen: Das verseuchte Grundwasser breite sich weiter aus. Davon seien mindestens 60.000 Menschen betroffen.
Hazira Bee kämpft seit Jahren gemeinsam mit vielen anderen gegen das US-Unternehmen Union Carbide sowie gegen den Chemiekonzern Dow Chemical, der Union Carbide inzwischen übernommen hat. Sie kämpft auch gegen das Desinteresse der Politiker und der Öffentlichkeit. Und dafür, dass der chemische Müll endgültig entsorgt wird.
"Dow Chemical soll den gesamten Abfall zurück in die USA bringen und dort entsorgen", sagt Bee mit lauter Stimme zu den um sie versammelten Menschen. "Die indische Regierung muss endlich den Druck auf die Verantwortlichen erhöhen."
Größter Chemieunfall weltweit
Knapp 30 Jahre ist das Unglück von Bhopal her. Es war einer der größten Chemieunfälle weltweit. 40 Tonnen des hochgiftigen Gases Methylisocyanat drangen aus der Union-Carbide-Anlage. An einem kalten Sonntagabend kroch der weiße Rauch durch die Straßen und Gassen der anliegenden Viertel, setzte sich in den Augen und Lungen der Bewohner fest.
Mehr als 20.000 Menschen starben, Hunderttausende leiden noch immer an den Folgen: Lungenerkrankungen, Augenprobleme und Bluthochdruck. Viele Frauen können keine Kinder mehr bekommen.
Heute schlummert die todbringende Fabrik inmitten grüner Bäume. Rostige Leitungen und Tanks ragen aus fahlem Gras empor. Ein paar Ziegen grasen daneben, Kinder spielen Kricket. Zwar ist es verboten, das Gelände zu betreten. Aber darum kümmert sich kaum jemand. In die meterhohe Fabrikmauer sind längst breite Löcher gebrochen, der Stacheldraht am Eingang ist herunter getreten.
Keine Warnung, kein Evakuierungsplan
T. R. Chauhan geht vorbei an verrosteten Tanks, Leitungen und Rohren: sein früherer Kontrollrundgang. Als Arbeiter musste er den Druck, die Temperatur und Fließgeschwindigkeit direkt an den Ventilen der Pestizid-Fabrik korrigieren.
Wer die damalige Katastrophe verschuldet hat, ist bis heute ungeklärt. Nur so viel ist sicher: Zahlreiche Sicherheitsvorrichtungen waren an dem Abend im Dezember 1984 abgeschaltet oder kaputt. Chauhan glaubt, den Schuldigen für den Unfall zu kennen: Union Carbide in den USA. Sie hätten bei Bau und Wartung der Fabrik gespart.
Im zentralen Kontrollraum hängt noch der Warnhinweis an der Wand, falls die Sirene des Chemiewerks anspringt: "Your attention please. There is release of toxic gas from the unit!" - Achtung! Giftiges Gas strömt aus der Anlage! Im Dezember 1984 wurden die Sirenen kurzerhand abgeschaltet, die Bevölkerung nicht gewarnt. Auch einen Evakuierungsplan gab es nicht.
Simple Müllentsorgung
Mit dem Auto fährt Chauhan an den südlichen Zipfel des Fabrikgeländes. Dort habe Union Carbide einen Hauptteil seines Mülls entsorgt, erzählt der einstige Fabrikarbeiter. Zunächst wurden die Chemikalien einfach auf den Boden gekippt, später in einem Verdunstungsbecken entsorgt.
So ein Verdunstungsbecken sei eine einfache Sache, sagt Chauhan, während er vorsichtig schlammige Pfützen umrundet, die sich im ausgetretenen Pfad entlang der Fabrikmauer gebildet haben. "Sie haben ein Becken gegraben, ein bisschen Plastikplane reingelegt und da die chemischen Stoffe reingegossen."
Heute steht das Wasser schwarz in dem Tümpel. Nebenan spielen Kinder. Ein leicht chemischer Geruch steigt auf.
Verseuchter Boden, verseuchtes Wasser
Rachna Dhingra versucht seit Jahren herauszufinden, was genau im Boden und im Grundwasser unter dem einstigen Fabrikgelände schlummert. Sie ist die Hauptkoordinatorin der "International Campaign for Justice in Bhopal".
1990 schickte die Organisation Bodenproben zur Untersuchung nach Boston. Damals hätten sie Blei und Quecksilber gefunden, erzählt Dhingra. Außerdem die Insektizide Aldicarb und Carbaryl, welche Leber, Lunge, Niere und das Gehirn schädigen.
Auch zwei Greenpeace-Studien und eine aktuelle Untersuchung des indischen Instituts für Toxikologie haben viele dieser Stoffe im Wasser und Boden nachgewiesen. Die Verantwortung für die Entsorgung lehnt der Union-Carbide-Nachfolger Dow Chemical ab.
Dabei habe das Unternehmen von der möglichen Verseuchung gewusst, sagt Dhingra. "Wir haben Mitteilungen aus dem Jahr 1982 gefunden, in dem das indische Tochterunternehmen die Zentrale in den USA warnt." Damals sei die Plane im Verdunstungsbecken undicht geworden. "Sie wussten davon bereits zwei Jahre vor dem Chemieunfall und haben nichts getan."
Entsorgungsfrage ungelöst
Die Aktivisten streiten seit langem mit der indischen Regierung über die Entsorgung des Giftmülls. In Indien gibt es keine geeigneten Anlagen. Bis August 2012 war auch Deutschland als Entsorgungsplatz im Gespräch. 350 Tonnen hochgiftige Abfälle sollten in Hamburg sicher verbrannt werden - lediglich fünf Prozent der gesamten Müllmenge.
Doch selbst dieser Deal platzte. Zu unsicher, zu kostspielig, zu gefährlich - und für Rachna Dhingra sowieso nur eine Teillösung. Sie fordert eine umfassende Lösung, bei der zuvor genau festgestellt wird, wie groß die Verseuchung des Wassers und des Bodens ist. "Dann erst können wir entscheiden, wie wir den Müll entsorgen, damit die Menschen nicht mehr vergiftet werden."