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PolitikUkraine

DW ehrt Journalisten aus Mariupol

Monir Ghaedi
20. Juni 2022

Für ihre Berichterstattung aus dem belagerten Mariupol wurden die ukrainischen Journalisten Mstyslav Chernov und Evgeniy Maloletka mit dem DW Freedom of Speech Award geehrt. Beide wollen an die Front zurückkehren.

Ukraine-Konflikt,| Russischer Angriff in Mariupol
Chernov und Maloletka dokumentierten, wie die Anwohner von Mariupol in der belagerten Stadt überlebten Bild: Evgeniy Maloletka/AP Photo/picture alliance

"Von all den Dingen, die ich in Mariupol gesehen habe, ist mir ein Bild besonders im Gedächtnis geblieben: die Leiche eines Säuglings, die auf dem Boden im Keller eines Krankenhauses lag." Mstyslav Chernov beschreibt die Szene im Gespräch mit der Deutschen Welle. Es war seine letzte Aufnahme in Mariupol. Am selben Tag Mitte März verließ er die belagerte Stadt.

"Wir filmten gerade in einem Krankenhaus, als ein Arzt zu mir kam und mich bat, ihm in den Hinterhof zu folgen", berichtet Chernov. "Dort sah ich plötzlich Dutzende Leichen, die auf dem Boden lagen, gehüllt in Plastiksäcke oder Teppiche." Es waren die Leichen von Zivilisten, die bei den Bombardierungen umgekommen waren, erzählt er. Der Arzt führte ihn in den Keller, in dem weitere Leichen lagen. "Darunter war auch dieses kleine Paket. Der Arzt beugte sich nach vorne und wickelte es aus und ich sah, dass es der kleine Körper eines Babys war. Daneben lag ein Zettel, auf dem stand, dass es 23 Tage alt geworden war."

Chernov ist Videojournalist bei der Nachrichtenagentur Associated Press. Er und sein langjähriger Kollege, der freie Fotograf Evgeniy Maloletka, wurden für ihre Berichterstattung aus Mariupol im Februar und März mit dem Freedom of Speech Award der Deutschen Welle ausgezeichnet. Sie erreichten die Hafenstadt wenige Stunden vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine und berichteten von dort drei Wochen lang, bis sie Mitte März aus der Stadt evakuiert wurden.

Bei der Preisverleihung in Bonn: Mstyslav Chernov und Evgeniy MaloletkaBild: Florian Görner/DW

"Manchmal sind Informationen für das Überleben der Menschen wichtiger als Lebensmittel. Dieser Gedanke ließ uns weiterarbeiten, auch wenn es jeden Tag schwieriger wurde", sagte Chernov bei der Verleihung des DW Freedom of Speech Award am Montag in Bonn.  "Die Tragödie von Mariupol wird für immer wie eine große Narbe auf meinem Körper und meinem Herzen bleiben, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass unsere Arbeit, mit der wir die Schrecken des Krieges dokumentiert haben, der Welt helfen wird, zu verstehen, was in der Ukraine passiert ist, und den Tausenden, die in einem sinnlosen Krieg getötet wurden, Gerechtigkeit widerfahren lässt“​​​​​​", sagte der Fotojournalist Evgeniy Maloletka.

Die Zahl der Toten in Mariupol war so hoch, dass sie in Massengräbern beerdigt werden musstenBild: Mstyslav Chernov/AP/picture alliance

Ihre Fotos und Videos erzählen in erschreckenden Details, wie das einst blühende Mariupol unter dem massiven Beschuss durch russische Streitkräfte in Zerstörung und Chaos versank. Die Journalisten dokumentierten die hoffnungslosen Bedingungen, unter denen die Bewohner der Stadt lebten, ohne Gas und Strom und über Wochen ohne Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser. Sie machten Bilder von Massengräbern, die mit den Leichen von Zivilisten und Kindern gefüllt waren. Ohne die zahlreichen Belege, die Chernov und Maloletka damit gesammelt haben, hätte die Welt nicht so schnell erfahren, was der russische Einmarsch für Mariupol bedeutete.

Fotos widerlegen russische Propaganda

Am 9. März machte Maloletka eine Aufnahme von Ärzten, die eine schwangere Frau aus einer bei einem russischen Luftangriff zerstörten Geburtsklinik tragen. Auch Chernov filmte die Szene. Die Schwangere und ihr Kind starben später, ihr Bild jedoch machte im Netz Furore. Die Journalisten konnten nicht ahnen, dass ihre Bilder Schlagzeilen machen und zu offiziellen Reaktionen führen würden.

"Es war nicht einfach, auf das Internet zuzugreifen, und wir hatten keine Gelegenheit, andere Medien zu verfolgen und zu sehen, welche Reaktionen das, was wir filmten oder fotografierten, ausgelöst haben", erzählt Chernov. "Als die Geburtsklinik bombardiert wurde, war mir jedoch klar, dass dies einer der bedeutendsten Augenblicke dieses Krieges war und dass die Bilder davon große Wirkung entfalten würden."

Die Bilder von Maloletka und Chernov belegen, dass Russland auch zivile Ziele im Visier hatBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

Während sie versuchten, die Bilder über ein nur an wenigen Stellen in der Stadt empfangbares, schwaches, instabiles Internetsignal aus der Stadt zu schicken, bombardierten die russischen Medien die Öffentlichkeit mit der Behauptung, durch russische Truppen kämen keine Zivilisten zu Schaden. Doch die viral gehenden Fotos von Maloletka, die die Zerstörung der Klinik dokumentierten, zeigten unwiderlegbar das Gegenteil.

Journalisten unter Beschuss

Sowohl für Chernov als auch für Maloletka ist die Berichterstattung aus Krisenregionen nicht neu. Während Chernov aus Kriegsgebieten wie Syrien, Irak und Myanmar berichtete, dokumentierte Maloletka jahrelang die Maidan-Revolution in der Ukraine sowie die Konflikte im Donbass und auf der Krim. Doch Mariupol war für beide anders.

Maloletka und Chernov verbrachten drei Wochen in der von russischen Truppen belagerten StadtBild: Evgeniy Maloletka/AP Photo/picture alliance

Chernow zählt diesen Auftrag zu den wahrscheinlich schwierigsten und gefährlichsten, die er je hatte. "Dieser Krieg ist außerordentlich gefährlich und unberechenbar und er wird mit extrem hoch entwickelten Waffen geführt", erläutert er. "Du fürchtest um dein Leben, aber gleichzeitig spürst du diesen Druck, Material zu produzieren und rauszuschicken, weil es wichtig ist." Jeder Journalist, der aus der Ukraine berichtet, fühle das, betont er.

Seit Beginn des Krieges feuern russische Truppen immer wieder auf Journalisten, wie eine von Reporters Without Borders veröffentlichte Aufstellung zeigt. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) wurden, Stand 13. Juni 2022, mindestens 12 Journalisten in den Kampfgebieten der Ukraine getötet. Ukrainische Quellen melden höhere Zahlen. Weitere Journalisten wurden als vermisst gemeldet, entführt oder kamen unter unbekannten Umständen ums Leben. Am 2. April, etwa zwei Wochen nachdem Chernov und Maloletka Mariupol verlassen hatten, erschossen russische Soldaten den litauischen Dokumentarfilmer Mantas Kvedaravicius ebendort.

Rückkehr an die Front

Trotz der Gefahren planen Chernov und Maloletka, an die Front zurückzukehren. 

Mstyslav Chernov in Köln in der Ausstellung "Die Gesichter des Krieges"Bild: Maksym Drabok/DW

Chernov geht davon aus, dass die Situation in der Ostukraine ebenso schlecht ist wie in Mariupol während der Belagerung, wenn nicht sogar schlechter: "Niemand weiß, wie viele zivile Opfer es gibt und wie groß die Zerstörung ist, weil es keine Bilder aus diesen Gebieten gibt." Er will zurück an die Front, weil er Ukrainer sei und Journalist. Es geschehen Dinge in der Ukraine, über die die Menschen Bescheid wissen müssen, fügt er hinzu.

"Wenn ich mir die Mainstream-Medien ansehe, habe ich den Eindruck, dass nur wenigen Menschen klar ist, wie nahe der Krieg in der Ukraine an Europa ist und welche massiven Auswirkungen er auf die gesamte Welt haben wird", beklagt Chernov und fügt hinzu, dass der Konflikt in der heutigen vernetzten Welt nicht abzusehende Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft haben wird.

Aus diesem Grund ist seine Arbeit für ihn mehr als nur die Berichterstattung aus einem Kriegsgebiet. "Es geht eher um die Berichterstattung am Beginn von etwas Großem, darum, Zeuge von Ereignissen und Kämpfen zu sein, die die Zukunft der Welt bestimmen werden", macht Chernov deutlich. "Wie kann man als Journalist nicht die Verpflichtung fühlen, davon zu berichten?"

Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.

 

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