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Ein Jahr des sportlichen Protests

Jonathan Harding
29. Dezember 2020

Es war ein aufwühlendes Jahr für den Sport, besonders für die Athleten, die ihre Stimme im Kampf gegen Rassismus erhoben haben. Die Ereignisse in Deutschland haben gezeigt, dass noch viel zu tun ist.

Borussia Mönchengladbach  1. FC Union Berlin Marcus Thuram
Gladbachs Stürmer Marcus Thuram kniet nieder - als Zeichen der Unterstützung der "Black Lives Matter"-BewegungBild: picture-alliance/dpa/M. Meissner

Sieben Monate nach den Solidaritätsbekundungen aus der Bundesliga postete Jordan Torunarigha von Hertha BSC ein Foto auf seinem Instagram-Account. Es zeigte eine Nachricht voller rassistischer Beschimpfungen, die er nach Herthas Derbysieg gegen Union Berlin erhalten hatte. Es war das zweite Mal innerhalb eines Jahres, dass der 23-Jährige derart beschimpft wurde. Und es stellt sich die Frage: Wie weit sind wir im Kampf gegen Rassismus bei allen scheinbaren Fortschritten in diesem Jahr wirklich gekommen?

Ende 2020 wurde das Champions-League-Spiel zwischen PSG und Basaksehir abgebrochen, nachdem der Vierte Offizielle Sebastian Coltescu beschuldigt worden war, den Assistenztrainer von Basaksehir, Pierre Webo, mit rassistischen Worten beleidigt zu haben. Der Schiedsrichter hatte später von einem Missverständnis gesprochen. Die Entscheidung der Profis beider Teams, nicht mehr weiterzuspielen, fand breite Unterstützung und zwang die UEFA dazu, das Thema aufzugreifen. 

Athleten übernehmen die Kontrolle

Bevor die Unterstützung für die Black-Lives-Matter-Bewegung im Mai in ganz Europa wuchs, zeigte der deutsche Fußball, wie viel Arbeit noch zu tun ist. Im Februar war die Empörung über Beschimpfungen gegen Hoffenheim-Mäzen und -Besitzer Dietmar Hopp größer als der Schutz und das Mitgefühl für Spieler wie Torunarigha oder Leroy Kwadwo, die rassistisch beschimpft wurden. Im Fall von Kwadwo kam zwar sofort hörbare Unterstützung von den Fans im Stadion, doch der organisierte Fußball lässt Schwarze Spieler weiterhin im Stich.

Das kann an der fehlenden Vielfalt in den Führungsetagen des Sports vor allem in Deutschland liegen - oder an grundlegenderen Problemen, die tief in die Struktur der Gesellschaft hineinreichen. Doch die Untätigkeit der Sportverbände lässt ihre immerzu wiederholten, gut gemeinten Worte hohl klingen. Deshalb waren die symbolischen Gesten gleich mehrerer Profispieler im Mai so wichtig: Weston McKennie trug eine Armbinde mit Worten der Unterstützung. Marcus Thuram kniete nieder und hob eine Faust in stiller Solidarität, nachdem er ein Tor erzielt hatte. Jadon Sancho und Achraf Hakimi präsentierten auf ihren Shirts Botschaften, die Gerechtigkeit forderten. Das hatte Gewicht. Und es zeigte, dass Spieler nicht nur Menschen sind, sondern dass sie auch die Macht haben, einer Bewegung mehr Gehör zu verschaffen.

Weltmeister Lewis Hamilton setzt sich in der Formel 1 für die "Black Lives Matter"-Bewegung einBild: Hamad I Mohammed/REUTERS

Gesellschaftliche Bewegungen haben oft lautstarke Anführer im Sport gefunden. Von Muhammad Ali, John Carlos und Tommie Smith bis hin zu Naomi Osaka, Colin Kaepernick und Raheem Sterling - der Kampf gegen Rassismus ist in den Sportarenen schon lange präsent. Heute sind die Stimmen der Sportler lauter und weiter verbreitet - dank der digitalen Welt. Lewis Hamilton begann und führte die Diskussion über Gleichberechtigung und Vielfalt in der nach wie vor überwiegend "weißen" Formel 1. Er tat es auf der Rennstrecke, indem er sein Auto schwarz färbte und vor jedem Rennen auf die Knie ging. Danach erläuterte er seine Überzeugungen und Gefühle seinen 21 Millionen Instagram-Followern.

Sportler brauchen heute nicht mehr die Medien, um eine Botschaft zu senden. Sie können es über die sozialen Netzwerke selbst tun - und machten davon in diesem Jahr reichliche Gebrauch. Damit geriet der Protest anders, größer und prominenter.

Es braucht Veränderung in der realen Welt

Social-Media-Initiativen sind wichtig, aber es müssen auch konkrete, reale Maßnahmen folgen. Darauf machte Jérôme Boateng, Profi des FC Bayern München, im DW-Interview aufmerksam: "Initiativen wie der Black Out Tuesday sind schön und gut, aber was wir wirklich brauchen, ist, dass wir uns wirklich engagieren und etwas tun." Das noch viel zu tun bleibt, zeigen folgende Beispiele: 

Gegen einen Jugendtrainer der Nachwuchsakademie des FC Bayern München wurde eine Untersuchung eingeleitet, weil er in einer WhatsApp-Gruppe rassistische Beleidigungen geäußert haben soll. In einer landesweit ausgestrahlten wöchentlichen Fußball-Fernsehsendung behauptete der ehemalige deutsche Nationalspieler Steffen Freund, dass die nordafrikanische Herkunft der Schalke-Spieler Amine Harit und Nabil Bentaleb deren Charakter und Einstellung erklären könnte. Nur wenige Tage bevor die Spieler von PSG und Basaksehir während ihres Champions-League-Spiels das Spielfeld verließen und damit scheinbar ein Umdenken einleiteten, verhöhnten die Fans in Englands zweiter Liga lautstark Spieler, die auf die Knie gingen.

Es passiert einfach immer wieder. Rassistisch motivierte Gewalt gegen Schwarze auf der ganzen Welt ist heute noch genauso ein Thema wie vor Jahrzehnten. In einigen Ländern ist diese Gewalt physischer als in anderen, aber die Gewalt des alltäglichen Rassismus ist uns allen traurig vertraut. "Es hat die Zeit meines Vaters gebraucht, die Zeit meiner Mutter, die Zeit meines Onkels, die Zeit meiner Brüder und Schwestern, die Zeit meiner Nichten und meines Neffen", sagte James Baldwin 1989 in seiner Biografie "The Price of the Ticket" über den Kampf gegen den Rassismus in den Vereinigten Staaten. "Wie viel Zeit wollen Sie für Ihren Fortschritt?"

Was wir brauchen, ist eine greifbare Veränderung. Wir brauchen mehr Aufklärung über den Kolonialismus. Wir brauchen die Bereitschaft, die Privilegien der Weißen zu erforschen. Wir müssen die Fakten erkennen und akzeptieren, auch wenn das bedeutet, unbequeme Wahrheiten über uns selbst anzuerkennen. Im Jahr 2020 haben viele Athleten gezeigt, dass sie nicht nur auf den Kampf vorbereitet sind; sie sind bereits mitten drin. Die Frage ist: Werden sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen? Oder werden sie allein gelassen in ihrem Kampf gegen Hassbotschaften, diskriminierende Sprache und das menschliche Übel des Rassismus?

Adaption: Olivia Gerstenberger

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