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Politik

Brasilien: Eine Mutter kämpft für ihren toten Sohn

8. März 2021

Eine brasilianische Mutter und ihre Mission: Nach dem Tod ihres fünfjährigen Sohnes ist die ehemalige Hausangestellte Mirtes Renata de Souza zur Aktivistin geworden und kämpft gegen Rassismus. Eine Begegnung.

DW-Interview Mirtes Renata de Souza, Aktivistin aus Brasilien
Die Brasilianerin Mirtes Renata de Souza, Mutter des verstorbenen Miguel, im Gespräch mit der DWBild: DW

Am 2. Tag jeden Monats zündet sie eine Kerze an. Mirtes Renata Santana de Souza, 34, trauert um ihren Sohn Miguel. Vor acht Monaten, am 2. Juni 2020, stürzte der fünfjährige Junge aus dem neunten Stock eines Hochhauses in Recife und starb.

Mirtes Renata, die als Hausangestellte bei einer wohlhabenden Familie arbeitete, hatte an diesem Tag ihren Sohn mit zur Arbeit gebracht - die Kinderbetreuung war wegen einer Corona-Infektion ausgefallen. Als sie mit dem Hund Gassi gehen sollte, ließ sie ihren Sohn bei der Arbeitgeberin zurück.

Diese kümmerte sich nicht um ihn. Als der Junge auf der Suche nach seiner Mutter die Wohnung verließ und in einen Fahrstuhl stieg, holte sie ihn nicht zurück. Der Fünfjährige stieg im neunten Stock aus und geriet an eine ungesicherte offene Stelle des Hochhauses, von wo er über 20 Meter in die Tiefe stürzte. 

Der Tod des fünfjährigen Jungen rüttelte mitten in der Corona-Pandemie ganz Brasilien auf. Und er machte die ehemalige Hausangestellte Mirtes Renata Santana de Souza zum Gesicht der brasilianischen Variante von Black Lives Matter.

Black Lives Matter: Nach dem Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 in den USA rückten auch in Brasilien Gewalt und Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung stärker in den Fokus. Polizeigewalt gegen Afrobrasilianer sowie deren systematische Vernachlässigung erfahren seitdem in brasilianischen Medien eine stärkere Aufmerksamkeit. 

Auf einmal Aktivistin

"Ich will nicht, dass der Tod meines Sohnes in Vergessenheit gerät. Ich will Gerechtigkeit. Niemand außer mir kann sich den Schmerz ausmalen, der mich quält, es ist sehr schwer", sagt Mirtes Renata im Gespräch mit der DW. Ihren 34. Geburtstag am 25. Februar ließ sie ungeachtet verstreichen, es gab keinen Grund zum Feiern.

Und doch kämpft Mirtes Renata. Sie kämpft gegen die Diskriminierung von Hausangestellten, die trotz Verbot während der Pandemie weiter arbeiten müssen. Sie kämpft für die Rechte von Kindern, ungeachtet der sozialen Herkunft. Und sie kämpft vor Gericht für die juristische Aufarbeitung des tragischen Todes von Miguel. 

Über 30.000 User folgen der ehemaligen Hausangestellten aus Recife bei Instagram. Eine von ihr mitinitiierte Online-Petition, die Gerechtigkeit für Miguel fordert (#justicapormiguel), haben mittlerweile knapp drei Millionen Menschen unterzeichnet.

"Ich wünschte, ich könnte sterben, und ihm mein Leben geben: Mirtes Renata auf der Titelseite der brasilianischen Tageszeitung "Diario de Pernambuco". Rechts neben ihr die ehemalige Arbeitgeberin Sari Gaspar Real

"Der Fall Miguel zeigt den tief verwurzelten Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft", sagt Deborah Pinho, Koordinatorin der Kampagne. "Wir wollen deshalb mit der Petition den politischen Druck erhöhen und Unterstützung für Mirtes organisieren."

"Mangelnde Aufsicht mit Todesfolge"

Doch die Mühlen der brasilianischen Justiz mahlen langsam. Der am 12. Juni 2020 von der brasilianischen Staatsanwaltschaft angestrengte Prozess am Jugendgericht in Recife ist über eine erste Anhörung der Zeugen am 3. Dezember 2020 noch nicht hinausgekommen.

Die Angeklagte, die ehemalige Arbeitgeberin Sari Mariana Costa Gaspar Corte Real, befindet sich nach einer Kautionszahlung auf freiem Fuß. Ihr wird die "mangelnde Aufsicht einer hilflosen Person mit Todesfolge" zur Last gelegt, eine Straftat, die nach dem brasilianischen Strafgesetzbuch mit bis zu zwölf Jahren Haft geahndet werden kann.

Für Mirtes Renatas Anwalt ist diese Freiheit ein Privileg, das die ungleiche Behandlung von reichen und armen Brasilianern verdeutlicht. "Wenn jeder Angeklagte, von dem keine öffentliche Gefahr ausgeht, das Recht hätte, der Untersuchungshaft durch Zahlung einer Kaution zu entkommen, könnte ich das nachvollziehen", erklärt Eliel Silva. "Aber leider profitieren von dieser Regelung meistens nur Personen, die über wirtschaftliche Macht verfügen."

Todesopfer Miguel auf der Titelseite der Tageszeitung "El País" (brasilianische Ausgabe)

Gutachten soll Unschuld belegen

Der Anwalt ärgert sich zudem über ein juristisches Gutachten, das von der Angeklagten in Auftrag gegeben wurde. Darin wird die Straftat der unterlassenen Aufsicht angezweifelt. Denn dafür, so die Gutachter, müssten der Angeklagten alle daraus resultierenden möglichen Gefahren bewusst gewesen sein, und dies sei nicht der Fall.

Mirtes Renata will keine Rache, sondern Gerechtigkeit. Sie ist sich sicher, dass der Tod ihres Sohnes hätte verhindert werden können. Ihre Arbeitgeberin habe ihr versichert, sie werde auf Miguel aufpassen. "Doch als mein Sohn dann nach mir gesucht hat und zum Fahrstuhl gerannt ist, hat sie ihn nicht zurückgeholt. Sie hätte ihn an die Hand nehmen und ins Apartment zurückbringen können. Oder sie hätte mich anrufen können. Wenn sie eines der beiden Dinge gemacht hätte, wäre ich jetzt hier mit meinem Sohn."

Paragrafen statt Putzen: Mirtes Renata studiert Jura und will Rechtsanwältin werden Bild: DW

Mirtes Renata kämpft mit den Tränen. Das Leben als Aktivistin ist für sie noch ungewohnt. "Frauenrechte und Rassismus sind für mich neue Themen, ich habe mich vorher nicht richtig damit beschäftigt", sagt sie.

Das hat sich geändert. Mittlerweile arbeitet sie für die Nichtregierungsorganisation Curumim in Recife, die sich für Frauenrechte einsetzt und gegen Rassismus kämpft. Außerdem studiert sie Jura. Ihre Mission: "Niemand soll das Unrecht widerfahren, das mir widerfahren ist."

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