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Politik

"Blauhelme sind kein natürlicher Schutz"

29. Mai 2018

70 Jahre nach ihrem ersten Einsatz haben sich die Anforderungen an die UN-Friedenssoldaten grundlegend gewandelt. Immer öfter werden sie selbst zum Angriffsziel. Die neuen Gefahren spiegeln die veränderte Weltordnung.

Haiti UN-Mission Minustah in Port-au-Prince
Bild: Getty Images/AFP/H. Retamal

"Niemand greift einen Gegner an, der stärker ist als er selbst." Und darum komme es vor allem auf eines an: die eigenen Truppen zu stärken. Sie derart auszurüsten und zu bewaffnen, dass ein Überfall auf sie zum Risiko für den Angreifer wird. Nur so lasse sich die Sicherheit der Soldaten wahren, nur so ließen sie sich den Herausforderungen einer Zeit anpassen, die zunehmend durch Gewalt und Brutalität gekennzeichnet sei. "Leider verstehen feindliche Truppen keine andere Sprache als die der Stärke."

Es sind drastische Worte, mit denen Generalleutnant Carlos Alberto dos Santos Cruz die neuen Herausforderungen umreißt, denen sich die UN-Friedenstruppen - die sogenannten "Blauhelme" - seit einigen Jahren zunehmend gegenüber sähen. Im Auftrag von UN-Generalsekretär Antonio Guterres hatte der pensionierte UN-Kommandeur seine Erkenntnisse in der im Dezember vergangenen Jahres vorgelegten Studie "Improving Security of United Nations Peacekeepers" vorgelegt, nach ihrem Verfasser auch kurz "Cruz-Studie" genannt.

In der Zeit seit der ersten Friedensmission bis zum Jahr 2015 sind 3.300 UN-Angehörige in Einsätzen ums Leben gekommen. Im Jahr 2017 zählen die Vereinten Nationen weitere 200 während der Missionen getötete Blauhelme. Insbesondere seit 2011 verzeichnen die UN einen Anstieg der Todesfälle in ihren Reihen, so der Report. Einen signifikanten Anstieg von Opfern habe man im Jahr 2017 verzeichnet. Darum müssten sich Vereinten Nationen und die sie unterstützenden Länder einer neuen Realität anpassen: "Die Blauhelme und die Flagge der Vereinten Nationen bieten keinen 'natürlichen Schutz' mehr."

"Keine Angst vor Einsatz von Gewalt"

Und das bedeute, dass die Vereinten Nationen handeln müssten, sowohl was die Ausrüstung, aber auch die Befugnisse der Blauhelme am jeweiligen Einsatzort angehe. "Um Angriffe abzuwehren und zurückzuschlagen und Angreifer zu besiegen, müssen die Vereinten Nationen stark sein und, wenn nötig, nicht davor zurückschrecken, Gewalt einzusetzen."

Für ein robustes Mandat der UN-Truppen: der brasilianische Kommandeur Carlos Alberto dos Santos CruzBild: picture-alliance/dpa/D. Fernandez

Cruz´ Studie erschien - wohl eher zufällig - kurz vor dem 70. Jahrestag des ersten Einsatzes von UN-Militärbeobachtern 1948. Die Aufgabe der - unbewaffneten - Truppe: den Waffenstillstand im soeben beendeten Palästina-Krieg nach der Staatsgründung Israels zu überwachen. Die erste bewaffnete Einheit wurde während der Suezkrise 1956 entsandt.

Eine veränderte Weltordnung

Die in der Cruz-Studie umrissenen Gefahren und Herausforderungen spiegeln vor allem die Veränderungen, die die internationale Ordnung in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Die 1945 in San Francisco verabschiedete Charta der Vereinten Nationen lud "alle sonstigen friedliebenden Staaten" ein, den UN beizutreten. Die Einladung implizierte eine internationale Ordnung, deren Träger vorrangig die Staaten und die sie repräsentierenden Regierungen waren.

Dies hat sich heute grundlegend geändert. Bereits 1998 umriss der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan die veränderte Weltlage so: "Bisher verhandelten die Vereinten Nationen nur mit Regierungen. Heute wissen wir, dass Friede und Wohlstand ohne Partnerschaft zwischen den Regierungen, den internationalen Organisationen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft nicht möglich sind. In der heutigen Welt sind wir alle voneinander abhängig."

Inzwischen haben die neuen Dynamiken längst ihre Schattenseiten offenbart. "Die Staaten sind, wenn es um Frieden und Sicherheit geht, nicht mehr das, was sie früher einmal waren, und sie sind auch nicht mehr unter sich", schreibt der Politologe Klaus Dieter Wolf in seinem Buch über die Vereinten Nationen. "Gefährdungen gehen immer weniger von zu viel ungehemmter staatlicher Machtausübung gegenüber anderen Staaten aus, sondern immer häufiger von Problemen, die dadurch entstehen, dass mit der staatlichen Autorität eine tragende Säule der bisherigen Weltordnung zerfällt. Der Nationalstaat stellt heute in vielen Bereichen nicht mehr die natürliche Bezugsgröße für politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungsprozesse dar."

Bühne "friedliebender Nationen": Verkündung der UN-Charta 1945 in San FranciscoBild: picture alliance/dpa/akg-images

Die "neuen" Konflikte

Für die "Blauhelme" heißt das, dass sie oft nicht mehr in "klassische", von Nationalstaaten ausgetragene Konflikte entsandt werden, sondern in solche, die ganz andere Ursachen haben. "Gewaltakte sind die Folge von Bedrohungen der Sicherheit durch bewaffnete Konflikte, Terrorismus, gewalttätige zivile Unruhen und Verbrechen", heißt es im Cruz-Report.

Die Diagnose spiegelt sich auch in den Statistiken der Einsätze. Das UN-Fact-Sheet vom August 2017 verzeichnet derzeit weltweit 15 laufende Friedensmissionen, an denen mehr als 110.000 UN-Angehörige beteiligt sind.

Bemerkenswert ist die zunehmende Verdichtung der Einsätze im Laufe der Zeit: Die ersten fünf Einsätze - von der Beobachtermission in Palästina bis zur der im damaligen Bürgerkriegsland Libanon - erstrecken sich über den Zeitraum von 1948 bis 1978. Die zweiten fünf Einsätze begannen zwischen 1991 und 2007. Das letzte Fünftel fällt in die Jahre 2010 bis 2014. Alle fünf Einsätze der jüngsten Zeit finden in Afrika statt: im Kongo; in Abyei, einem zwischen dem Sudan und dem Süd-Sudan strittigen Gebiet; im Süd-Sudan selbst; in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik. Allenfalls der Konflikt in und um Abyei ließe sich noch als klassische internationale Auseinandersetzung bezeichnen.

"Die wissen nicht, was Blauhelme sind"

Bei diesen Einsätzen neuen Typs stehen die Blauhelme teils bewaffneten Akteuren gegenüber, denen die "Vereinten Nationen" und erst Recht die hinter ihnen stehende Ordnung völlig unbekannt sind. General Balla Keita, Oberkommandierender der Minusca-Blauhelm-Mission, die den Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik eindämmen soll, sagte in einem Interview mit der ARD, seine Truppen stünden oft 16 oder 18 Jahre alten Bewaffneten gegenüber, die nie Schulunterricht genossen, nie von den Vereinten Nationen gehört hätten. "Die wissen nicht, was Blauhelme sind. Wenn du denen im Weg stehst, wirst du zum Ziel", sagt der General.

UN-Truppen im Zentrum bewaffneter Konflikte, Szene aus AbyeiBild: Getty Images/A.G.Farran

Die Konsequenzen liegen für ihn auf der Hand: "Wir müssen unsere Gegner neutralisieren. Wir müssen sie töten, bevor sie uns umbringen." Nur so könne die Truppe ihre Aufgabe erfüllen: "Wir dürfen sie nicht zuerst die Zivilisten töten lassen. Wir müssen so handeln, dass wir sie ausschalten können."

Für die Blauhelme hat sich der Charakter ihrer Einsätze grundlegend verändert. Immer häufiger fänden sie unter Anwendung von Gewalt statt, schreibt der Politologe Klaus Dieter Wolf. "Von dem ursprünglichen Modell der Blauhelme-Einsätze denkbar weit entfernt sind die Grenzen zwischen Peace-keeping und militärischer Intervention in der Praxis fließend geworden."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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