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Bleib tolerant, Berlin!

Stuart Braun/ suc5. Mai 2015

Fremdenfeindlichkeit ist weltweit wieder auf dem Vormarsch. DW-Reporter Stuart Braun hofft, dass das in der deutschen Hauptstadt anders ist - denn hier vibriert der Herzschlag von 190 Nationen.

Vermummte Hooligans
Bild: Getty Images/A. Koerner

Kürzlich habe ich mir einen Gig des Trios Essad Bey City Rollers angesehen. Sie spielen eine Mischung aus Klezmer und osteuropäischer Musik. Ihr Sound ist eine Hommage an ihren Namensgeber; er war ein Schriftsteller, der in der Sowjetunion in einem jüdischen Umfeld aufwuchs, bevor er vor den Bolschewiken fliehen musste und im Berlin der Weimarer Republik zum Islam konvertierte.

Die Pegida-Bewegung, die eine "Islamisierung" Deutschlands fürchtet, in Dresden bis zu 20.000 Menschen mobilisiert und sich generell gegen die Aufnahme von Flüchtlingen stellt, würde jemanden wie Essad Bey nicht gutheißen. Der selbsternannte muslimische Prinz und Orientalist avancierte in Deutschland zum Bestsellerautor, obwohl er russischstämmiger Jude war. Aber in der kosmopolitischen Weimarer Republik waren seine zweifelhaften Einblicke in die exotischen Kalifate des Morgenlandes ein großer Hit.

Einer der Essad Bey City Rollers trug auf der Bühne einen Fez, so wie seinerzeit schon Bey. Sein Name: Yuriy Gurzhy, vielleicht besser bekannt durch seinen musikalischen Einsatz bei der Band RotFront, einer lauten Balkanbeat-, HipHop-, Ska-, Polka-Turbo-Band mit einer großen Fangemeinde in ganz Europa. Yuriy stammt aus der Ukraine und hat jüdische Wurzeln; die Band gründete er gemeinsam mit dem Ungarn Simon Wahorn aus Budapest, ein paar Jahre, nachdem beide Mitte der 1990er in Berlin strandeten.

Benannt haben sie ihre Band nach einer kommunistischen Widerstandgruppe, die in den Straßen Berlins gegen die Nazis kämpfte. RotFront ist eine polyglotte Band von selbsternannten "Emigrantski Ragamuffins", die sich zunehmend gegen die auch von Pegida propagierte Intoleranz wehrt. Ihr Lied "Gay, Gypsy and Jew" zum Beispiel entstand als Reaktion darauf, dass diese Minderheiten in Ungarn unter dem rechtsnationalen Ministerpräsidenten Victor Orbán attackiert wurden. Der Song würde aber zweifellos auch anderswo in Europa passen, erzählt mir Yuriy. Vor allem in Putins Russland.

Kondome und Munition

Ein paar Tage nach der Show der Essad Bey City Rollers sah ich bei der Berlinale einen Kurzfilm, in dem eine Beischlafszene als Metapher für den Konflikt zwischen Palästina und Israel genutzt wurde. Nach dem Akt wandte sich die Frau enttäuscht an ihren Partner, der auch nach 18-monatiger Beziehung noch auf einem Kondom bestand: Das erinnere sie an die Mauer, die die jüdische Nation zwischen sich und Palästina errichtet habe. Der Zwecks dieses "Kondoms" sei es, Israel rein zu halten und eine Rassenmischung von Juden und Arabern zu verhindern, so die Frau weiter. Aber genau so eine Vermischung und mehr Vertrauen könnten das Ende des Konflikts im Nahen Osten einläuten. Nur würden sich weder Israel noch seine Partner darauf einlassen.

"A Spectacle of Privacy" hieß dieser Film des Libanesen Roy Dib. Auf dem Heimweg im Zug dachte ich über Israel nach: einen Staat, der durch extremen Nationalismus entstanden ist - und durch die Folgen des Holocaust, der sich einst in Berlin zusammengebraut hatte. Es ist die Ironie der Geschichte, dachte ich bei mir, dass jetzt ausgerechnet in Berlin viele palästinensische Flüchtlinge leben; die meisten im Stadtteil Neukölln, der auch viele junge Israelis anzieht, die vor Mauern und Nationalismus fliehen. Mir wurde ein wenig idealistisch ums Herz: Vielleicht, ja vielleicht, wurden Mauern und Kondome in Berlin ja abgeschafft.

Jäh wurde ich in meinen Träumereien von einem zwölfköpfigen Trupp junger Männer und einer Frau unterbrochen, die sich in mein fast leeres Abteil drängten; die meisten hatte Bomberjacken und schwarze Stiefel an. Hinter ihnen tauchte eine ähnliche große Gruppe gut ausgerüsteter Bereitschaftspolizisten auf.

Der Sound von Berlin: Die Essad Bey City Rollers mischen viele MusikgenresBild: Oleg Farynyuk

Die Gruppe unterhielt sich über unverfängliche Dinge - wenn auch recht laut. Dann schaute einer von ihnen die Polizei an und bemerkte mit provozierendem Unterton, dass man beim nächsten Pegida-Aufmarsch in Dresden mit dabei sei. Ich schaute mir genauer die Inschrift auf der Jacke des Typen an, der sich neben mich gesetzt hatte. Da stand: "Hooligans gegen Salifisten".

Diese rassistischen und gewaltbereiten Fußballfans hatten sich Ende 2014 zu Hunderten in Köln zusammengerottet, um gegen den sogenannten islamistischen Extremismus in Deutschland zu protestieren. Dabei kam es zu wüsten Ausschreitungen – und natürlich besangen sie auch die Reinheit des "Deutschen Volkes". Ich habe nie herausgefunden, warum sie in dieser Nacht zugeschlagen haben, aber ich vermute, sie nahmen die Schießereien in Kopenhagen zwei Tage zuvor als Vorwand. Dort hatte ein radikaler Islamist, quasi als Nachahmer des Charlie Hebdo-Massakers, ebenfalls versucht, einen Cartoonisten zu ermorden, der den Propheten Mohammed gezeichnet hatte. Stattdessen erschoss er den Filmregisseur Finn Nørgaard und den Wachposten einer Synagoge.

Während die Bereitschaftspolizei in meinem Zugabteil die "Hooligans gegen Salafisten" im Auge behielt, wollte ich daran glauben, dass diese Gruppe eine winzige Minderheit darstellt. Als sich die fremdenfeindlichen Pegida-Anhänger letztens in Berlin als "Bärgida" versammeln wollten, waren die antifaschistischen Gegendemonstranten ihnen nämlich zahlenmäßig haushoch überlegen.

Leben in Berlinstan

Aber wen will ich veräppeln? Wieder waren Minderheiten in Europa die Sündenböcke einer hasserfüllten Politik. Auch Berlin erwies sich nicht als immun. Als ich sah, wie die Hooligans im Zug sich in Anwesenheit der Bereitschaftspolizei zunehmend provokanter verhielten, war ich verstört von einer Realität, in der das Echo der 1930er Jahre mitschwang.

In den letzten Jahren hat der Musiker Yuriy Gurzhy viele Russen getroffen, die von der wachsenden Anzahl neonazistischer Banden in ihrem Land berichten. Diese Ultranationalen beschränken sich nicht auf antisemitische Pöbeleien, wie es sie schon auf den Straßen Berlins gab; sie attackieren gezielt Ausländer, Homo- und Bisexuelle und Transvestiten. "Die Lage ist wirklich ernst", sagt Yuriy, dessen nahe Verwandtschaft nicht in den Konzentrationslagern der Nazis endete - anders als entferntere Familiengehörige des jüdischen Clans. Aber jetzt müssen seine Verwandten in der Ukraine einer neuen Gefahr ins Auge blicken. Yuriys Familie und seine Freunde leben in Kharkiv im Osten des Landes und sprechen Russisch, wollen aber Teil einer unabhängigen Ukraine sein. Für russische Nationalisten in der Region undenkbar.

Viele Deutsche begehren gegen die wachsende Ausländerfeindlichkeit aufBild: Getty Images/A. Koerner

Als Gitarrist und begeisterter Schallplattensammler, der 1999 gemeinsam mit dem Schriftsteller und DJ Wladimir Kaminer, einem weiteren russischen Exilanten, die berühmte Russendisko gründete, liebt Yuriy an Berlin, dass seine Identität hier im Fluss ist. Genau wie Essad Bey kann man auch ihm kein Etikett anheften. Er ist Ukrainer und Jude, er hat einen deutschen Pass und spricht Russisch, Englisch, Deutsch und Ukrainisch. Yurij glaubt, in dieser Stadt an der Trennlinie zwischen Ost und West – einem Ort, den RotFront "Berlinstan" nennt - ohne Etiketten leben zu können und von seinen unterschiedlichen Lebenswelten zu profitieren.

Mein Zug kam schließlich am Hermannplatz an, Endstation meiner Heimreise nach dem Filmabend. In diesem Stadtbezirk leben 190 Nationalitäten. Und ich hegte die Hoffnung, dass sich von allen Plätzen dieser Welt gerade Berlinstan an den hohen Preis der Intoleranz erinnert – und dass man hier nie wieder ein Kondom brauchen wird.

Stuart Braun ist Autor des Buches: "City of Exiles: Berlin from the Outside", das im April bei Noctua Press erschienen ist.

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