Er mag Stroh, Blei und riesige Formate: Das Centre Pompidou widmet Anselm Kiefer jetzt eine große Werkschau. Der Künstler hat sich wie kein anderer mit den Mythen deutscher Geschichte auseinandergesetzt.
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Anselm Kiefer: Retrospektive des deutschen Künstlers in Paris
"Ausstellung meines Lebens" nennt Anselm Kiefer die Retrospektive im Centre Pompidou in Paris. Der Künstler hat sich wie kaum ein anderer mit den Mythen und Abgründen der deutschen Geschichte auseinandergesetzt.
Bild: JOEL SAGET/AFP/Getty Images
Krieg und Mythen
Er ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und einer der erfolgreichsten Künstler der Welt. Anselm Kiefer wurde 1945 in Donaueschingen geboren, im historischen Jahr des Kriegsendes. Seit 1993 lebt er in Frankreich. Sein Werk, das aus Installationen, Zeichnungen und Gemälden besteht, kreist um die deutsche Mythologie und darum, was der Zweite Weltkrieg aus den Deutschen gemacht hat.
Bild: Anselm Kiefer/Ben Blackwell
Zerstören, um Neues zu schaffen
Der streng katholisch erzogene Anselm Kiefer schreitet durch Geschichte, Religion und Mythologie. Ein wiederkehrendes Motiv seiner Werke ist die Farb-Palette. In dem Gemälde "Resumptio" (1974) sieht man sie mit Flügeln verziert über einem Grab schweben. Die Kraft, mit der Vergangenheit umzugehen, zieht er aus der Malerei, lautet seine unterschwellige Botschaft.
Bild: Atelier Anselm Kiefer
Aura der Worte
Viele Kunstwerke Kiefers beziehen sich auf die Literatur, etwa "Margarete" (1981). Darin spielt er auf Paul Celans "Todesfuge" an, die von dessen Zeit im KZ handelt. Zwei Frauen, Margarete und Shulamite, eine Arierin und eine Jüdin, spielen darin eine Rolle. Margaretes blondes Haar wird nicht gemalt, sondern als Stroh in die Farbe eingearbeitet. Den Namenszug hat Kiefer in das Bild geschrieben.
Bild: Anselm Kiefer/Ian Reeves
Bleischwere Geschichte
Auch für das Gemälde "Lilith" (1987-1990) verwendet Anselm Kiefer nicht nur Ölfarbe, sondern zudem Kohle, Asche, Frauenhaar, Bleistreifen und Mohn. Lilith war die "erste Eva", die Gott aus dem gleichen Lehm wie Adam schuf. Die Kreatur ist sowohl rebellisch, als auch melancholisch. Um das auszudrücken, benutzt Kiefer das Blei - es zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk.
Bild: Atelier Anselm Kiefer
Kunst machen nach Auschwitz
"Für Paul Celan" heißt dieses Werk, das unter anderem aus Schellack, Asche und verbrannten Büchern besteht. Es gleicht einer verwüsteten Landschaft. Genau wie Celan, der als wichtigster Lyriker nach Auschwitz gilt, versucht Kiefer, die Geschichte zu erforschen, ohne an ihr zu zerbrechen. Er findet eine eigene Bildsprache, die konstruktiv und destruktiv zugleich ist.
Bild: Charles Duprat
Erdige Schwere
Das Gemälde "Waterloo" ist Teil eines Zyklus, der um die Niederlage Napoleons in Belgien kreist. Die braune Erde wirkt warm und brüchig zugleich. Anselm Kiefer arbeitet mit Suggestionen, mit Andeutungen, die in viele Richtungen weisen. Unweigerlich denkt man wieder an die deutsche Geschichte - insbesondere an die im Dritten Reich viel beschworene "Heimaterde".
Bild: Atelier Anselm Kiefer
Sprache der Materialien
Während die Kunst früher im Dienste der Alchemisten stand, steht die Alchemie nun im Dienste der Künstler: Diese Installation aus Blei (2014) nannte Kiefer "Ouroboros" - in der Alchemie ist das die sich selbst in den Schwanz beißende Schlange. Wo diese hier zu sehen ist, bleibt Kiefers Geheimnis. Er liebt es, seine Werke zu verschlüsseln. Den Sinn dahinter muss der Betrachter selbst herausfinden.
Bild: Georges Poncet
Archaische Welten hinter Glas
Im Centre Pompidou zeigt Anselm Kiefer auch vierzig Vitrinen. Darin liegen archaische Objekte: Es handelt sich um Pflanzen, Steine, Eisen oder Stahl. Materialien, die an die Entstehung und an das Ende des Lebens zugleich erinnern.
Bild: Georges Poncet
Installationen groß wie Häuser
Seit 1993 lebt Kiefer in Südfrankreich. In Barjac in der Region Gard hat er sich auch ein gigantisches Atelier gebaut: Viele seiner Installationen sind so groß, dass sie kaum in ein Museum passen. Für seine Retrospektive in Paris konzentriert er sich aber auf kleinere Arbeiten: Malerei, Fotografie und Vitrinen, die sein gesamtes Schaffen umspannen.
Bild: picture-alliance/dpa/J. Alvarez/Editions du Regard
Archivar der deutschen Geschichte
So eine umfangreiche Ausstellung mit Werken des deutschen Künstlers hat es in Frankreich seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben. Fast 150 Kunstwerke, davon sechzig Gemälde, die zu den Schlüsselwerken Kiefers (Bild) gehören, sind zu sehen. Darüber hinaus einige Installationen, Vitrinen und Arbeiten auf Papier.
Bild: JOEL SAGET/AFP/Getty Images
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Anselm Kiefer ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und einer der gefragtesten Künstler der Welt. Dabei ist er auch ein unbequemer Mann: einer der tief bohrt - so tief, bis es weh tut. Als Anselm Kiefer nach seinem Studium an der Kunsthochschule in Karlsruhe und an der Kunstakademie Düsseldorf bei Joseph Beuys damit anfing, erste Kunstwerke der Öffentlichkeit zu präsentieren, ging es ihm auch darum, eine persönliche Schuldfrage zu klären: seine eigenen Verstrickungen in den Nationalsozialismus.
Kiefer, der im März 1945, zwei Monate vor der offiziellen Kapitulation Deutschlands, im schwäbischen Donaueschingen zur Welt kam, trug die Last des Krieges schwer mit sich herum. Als einer der ersten machte er sie auch in seiner Kunst zum zentralen Thema. In Deutschland kam das zunächst gar nicht gut an. Durch seine Abschlussarbeit an der Hochschule heimste er sich durchweg negative Reaktionen ein. Kiefer zog damals durch Europa und ließ sich dabei filmen, wie er den Hitlergruß in aller Öffentlichkeit aufführte. Damit handelte er sich den Vorwurf ein, Neofaschist zu sein. Kiefer wollte allerdings nur für sich selbst herausfinden, welche Spuren der Nationalsozialismus bei ihm hinterlassen hat.
Vergangenheitsbewältigung
Anselm Kiefer war der erste Künstler der Nachkriegsgeneration, der die Nazivergangenheit in der Kunst so explizit zum Thema machte. Es war sein persönliches Anliegen, herauszufinden, was passiert ist. In den Schulen handele man das Thema in einem Halbjahr ab - das reiche nicht, hat Kiefer einmal in einem Interview gesagt. Er wollte herausfinden, wie er sich selbst verhalten hätte.
Vergangenheitsbewältigung, die germanische sowie antike Mythologie und später auch die jüdische Mystik wurden zu seinen Leitthemen. In den 1970er Jahren schuf er eine Serie heroischer Sinnbilder: Landschaftsbilder aus verbrannter Erde oder verkohlten Büchern, die an die Schrecken und Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs erinnern sollten.
Destruktive Energie und heilende Kraft
Mit seiner Kunst stemmte sich Kiefer den Einflüssen des Abstrakten Expressionismus genauso entgegen wie denen der Pop Art oder des Minimalismus. Stattdessen entwickelte er eine eigene Bildsprache, die stark von seinem Lehrer Joseph Beuys beeinflusst war. Während Beuys auf die Kraft von Fett und Filz setzte, verwendete Anselm Kiefer Blei, Erde und archaische Materialien. Die Schwere dieser Materialien verleihen seinen Werken eine Aura von Melancholie und Destruktivität. Andererseits glaubt Kiefer an die heilende Kraft der Kunst. Wie ein Alchemist bringt er in seinen Vitrinen - von denen im Centre Pompidou allein vierzig zu sehen sind - Steine, Metalle oder Pflanzen zusammen.
Gefeiert wurde Anselm Kiefer zunächst in den USA. Im Deutschland der 1970er Jahre war die Zeit für eine Konfrontation mit der Vergangenheit offensichtlich noch nicht reif. Lieber die Augen verschließen anstatt das Verdrängte aufzuarbeiten, lautete das Diktum auch in der Kunst. 1980 vertrat Kiefer die Bundesrepublik dann aber im Deutschen Pavillon der Biennale von Venedig. Dreimal wurde er ab 1982 auf die Weltkunstschau Documenta in Kassel eingeladen.
Größte Kiefer-Retrospektive seit 30 Jahren in Frankreich
Die Franzosen verehren den Deutschen, der sich 1993 in ihrem Land niedergelassen hat. Immer wieder schufen sie Platz in ihren Museen, um seine großformatigen Installationen und Gemälde zu präsentieren. Doch eine derart umfangreiche Ausstellung wie jetzt hat es seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben. Fast 150 Kunstwerke, davon sechzig Gemälde, die zu den Meisterwerken von Kiefer gehören, sind im Centre Pompidou zu sehen. Außerdem Installationen, Vitrinen und Arbeiten auf Papier sowie einige der ersten Künstlerbücher.
Der Besucher kann sich thematisch oder chronologisch geordnet durch Kiefers Werke bewegen. Schlüssel-Arbeiten aus dem Frühwerk wie Resurrexit, Quaternität (beide 1973), Varus (1976), Margarethe (1981) und Sulamith (1983), in denen es um den Holocaust geht, sind genauso zu sehen wie jüngere Werke, die um die Kabbala und die jüdische Mystik kreisen. Die Retrospektive ist vom 16. Dezember 2015 bis zum 18. April 2016 in Paris zu sehen.