"Blut und Tote steigern die Quote nicht"
3. Mai 2016Deutsche Welle: Herr Gleich, Kriege, Katastrophen, Sex und Tiere verkaufen sich hervorragend in den Medien - eine journalistische Ur-Wahrheit, ein Marktgesetz. Sie wollen das ändern und haben gerade auf dem "European Newspaper Congress" in Wien für einen "Constructive Journalism" plädiert - also für eine konstruktivere, positivere Berichterstattung. Wie soll die aussehen?
Michael Gleich: Ich will das gar nicht ändern, sondern ich will eine Facette des Journalismus ergänzen. Nämlich diejenige, die nicht nur die Probleme anspricht, sondern auch Lösungen für große soziale Probleme anbieten will. Investigativer Journalismus, der Missstände offenlegt, oder die Kriegsberichterstattung - sie verlieren nicht an Wert. Aber die Ergänzung durch einen lösungsorientierten Journalismus brauchen wir deshalb, weil es einfach generell in der Medienlandschaft eine Tendenz zum Negativen, zum Katastrophischen gibt, der das Publikum vertreibt. Dass Blut und Tote die Quote steigern, das stimmt einfach nicht mehr. Die Menschen haben auch das Bedürfnis, nicht nur den Missstand aufgezeigt zu bekommen. Sie wollen auch wissen, was die Gesellschaft für Potenziale hat, um diesen Missstand zu beseitigen. Feedbacks und Leserbriefe zeigen das.
Und Sie befürchten nicht, dass dieser "Constructive Journalism" zu pädagogisch daherkommt?
Es geht nicht um Pädagogik und Erziehung, sondern um die investigative, kritische Recherche in Richtung Lösungen. Das heißt, pädagogisch wäre es, wenn der Journalist sich anmaßt, die Lösungen zu kennen. Journalistisch ist es, wenn er mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse losgeht und sagt: "Wir haben ein Flüchtlingsthema, jetzt schaue ich mir mal die zehn faszinierendsten Lösungen und Initiativen an, die versuchen, Flüchtlinge zu integrieren." Das ist eine klassische Recherche und das ist auch eine klassische, kritische Analyse, die genau hinschaut, ob etwas eine echte Lösung ist oder ob es eine Scheinlösung ist. Eine Recherche also, die genau hinguckt. Jede Lösung hat ja auch Risiken und Nebenwirkungen. Diese nennt der Journalist auch. Jede Lösung hat auch ihre Grenzen. Diese Grenzen macht der Reporter transparent und das alles unterscheidet "Constructive Journalism" von PR oder von naiver pädagogisch motivierter Weltverbesserung.
Mit Journalismus muss man auch Geld verdienen. Wie attraktiv könnte denn positiver Journalismus unter Verkaufsaspekten sein?
Das ist noch umstritten. Es gibt erste Erkenntnisse darüber, dass zum Beispiel in den sozialen Medien journalistische Inhalte die konstruktiv sind, häufiger mit anderen Usern geteilt werden. Es gibt Experimente, zum Beispiel bei "Spiegel Online", die ein und dieselbe Geschichte über Kakaoanbau in Ghana und Kinderarbeit veröffentlicht haben. Einmal haben sie pur den Missstand aufgezeigt hat. In der zweiten Version haben sie die gleiche Geschichte mit einem Zusatz im Teaser versehen. Darin stand, was sie als Konsument selbst tun können, um Kinderarbeit nicht noch zu fördern. Beide Geschichten wurden online gestellt: Einmal die Missstandsvariante und einmal den Missstand plus "was kann der Kunde selber tun". Diese konstruktive Variante wurde viel häufiger angeklickt und geteilt als die pure Missstandsvariante. Es gibt erste Hinweise, dass die Relevanz wieder steigt, wenn man nicht einseitig negativ berichtet, sondern den Fokus erweitert. Dann nämlich, wenn konstruktive Elemente für Überraschung sorgen. Nicht zufällig hat zum Beispiel der "Spiegel" jetzt die Kolumne "Früher war alles schlechter" eingeführt, die jede Woche erscheint. Darin werden vermutete Negativtrends oder gefühlte Negativtrends beim Publikum mit überraschenden harten Zahlen über positive Entwicklungen in der Welt kontrastiert. Es scheint ein Bewusstsein zu wachsen, dass wir wirklich die ganze Wahrheit wollen. Probleme und Lösungen.
Ob Verleger oder User - eigentlich wollen alle guten Journalismus. Aber wollen ihn auch alle bezahlen?
Der konstruktive Journalismus hat, meiner Meinung nach, ähnliche Probleme wie der investigative. In beiden Fällen sind die Recherchen immer zeitaufwendig. Bei komplexen Problemen gibt es selbstverständlich auch komplexe Problemlösungen, vielleicht sogar international verteilt. Es kann also sein, dass wir ähnliche Antworten auf diese Herausforderungen brauchen. Zum Beispiel, dass sich Redaktionen zusammenschließen, wie das im investigativen Journalismus schon der Fall ist - siehe den Verbund von Süddeutscher Zeitung mit dem Westdeutschen Rundfunk und Norddeutschen Rundfunk - um Recherchekosten zu teilen. So ähnliche Formen kann ich mir im konstruktiven Journalismus auch vorstellen, sodass man Qualität nach wie vor produzieren kann auch bei aufwendigen Recherchen.
Michael Gleich ist Journalist und Buchautor und arbeitet als freier Autor für Qualitätszeitschriften.
Das Interview führte Volker Wagener.