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"Es gab immer ein Gerede, erst jetzt wird daraus ein Reden"

26. September 2018

Eine Studie belegt den massenhaften Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche - jetzt beginne die Aufarbeitung, beteuert die Kirche. Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff hat das für sich bereits getan.

Deutscher Buchpreis 2016 für Bodo Kirchhoff
Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

"Es sind immer die dunklen Seiten unserer Biographie, die uns dorthin begleiten, wo ein anderer nackt auf uns wartet", schreibt Bodo Kirchhoff 2004 in seinem Roman "Wo das Meer beginnt".

Ein programmatischer Satz, der als in Stein gemeißelte Inschrift über seinem gesamten Werk stehen könnte. In seinen Romanen und Erzählungen tauchen an seine Biografie angelehnte Bilder wiederholt auf: der halbnackte Kantor im Internat, der Sportlehrer, manchmal wartet eine Mutter halbnackt im Bett oder ein Mitschüler. Es verfolgte ihn.

Bodo Kirchhoff - Schreiben als AufarbeitungBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Sein "Missbrauch" begann als knapp Vierjähriger - im Sommerurlaub mit seiner Mutter, die ihn zu sich ins Bett holte. Die Bezeichnung "Missbrauch" mag Kirchhoff nicht. Es helfe nicht weiter und werde den Widersprüchen des persönlichen Dramas nicht gerecht, schrieb Kirchhoff 2010 in einem vielbeachteten Essay für den "Spiegel". "Der sogenannte Missbrauch - natürlich konfessionsübergreifend, was sonst - hinterlässt ein ungeheures Sprachloch. Es ist ein Loch - das Wort Narbe wäre schon ein Euphemismus -, das weder die Zeit heilen kann noch Prozesse; der Begriff Verjährung ist in jedem Fall absurd."

Für Bodo Kirchhoff, 1948 in Hamburg geboren und als Kind im Schwarzwald aufgewachsen, war das Schreiben später Therapie. Die Arbeitswut, das Reinknien in die Schicksale fiktiver Romanfiguren, taten ihm gut. Die literarischen Geschichten waren seine Waffe, um mit der Vergangenheit fertig zu werden.

Sprachloses Kind

Erfolgreicher Schriftsteller: Bodo Kirchhoff (re) bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2016 Bild: Imago/HMB-Media

Mit seinem Roman "Infanta" landete der bekannte deutsche Schriftsteller 1990 einen Bestseller, wochenlang stand sein Buch auf Platz eins der Bestsellerlisten. Kirchhoff wurde zum gefragten Talkshow-Gast. Danach war es schwierig für ihn, an seinen Erfolg anzuknüpfen. Was ihn gedanklich gefangen hielt, zwanghaft, unproduktiv, getrieben von wiederkehrenden Erinnerungen, offenbarte er erst später und jetzt in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie.

Kirchhoff gehört zu den Schriftstellern, die sich mutig und unmissverständlich in Interviews als "Betroffener" geoutet haben. In seiner Kindheit und Jugend hat er mehrfach sexuelle Übergriffe erlebt. Als Internatsschüler, gerade einmal zwölf Jahre alt. Der Täter: Schulkantor, sein Religionslehrer: Gitarre spielend, langhaarig, Roth-Händle-Raucher, VW-Cabrio-Fahrer und einschmeichelnd locker drauf. Ein skrupelloser Päderast im Dienste der evangelischen Kirche, die das Internat damals betrieb.

Totschweigen, Wegschauen, Vertuschen war damals die Antwort auf das ungeheuerliche Geschehen, berichtete Bodo Kirchhoff in Inteviews. "Im Internat gab es keinen Skandal, es gab nur Verhöre durch Leute, die alles ganz genau wissen wollten, um sich darüber, eher aber daran zu erregen. Ich musste über etwas sprechen, zu dem es keine Sprache gab, ich musste mir eine erfinden, auch so wird man Schriftsteller."

Drängende Offenheit gegen den Schmutz

Auch an der Odenwaldschule gab es einen MissbrauchsskandalBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Der Missbrauchsskandal an der hessischen Odenwaldschule brachte ihn 2010 dazu, nicht literarisch Verpacktes, sondern etwas sehr Persönliches zu veröffentlichen. Mutig schrieb sich Bodo Kirchhoff in aller Öffentlichkeit die eigene Last von der Seele, in Form eines autobiografischen Essays, veröffentlicht im Magazin "Der Spiegel".

Er könne nachempfinden, warum sich keiner der Betroffenen an eine vielleicht schützende Öffentlichkeit gewandt hatte. "Lieber behält man intimen Schmutz für sich, als ihn einer schmutzgierigen Welt auszusetzen, die sich nur respektlos erschüttert zeigt."

"Schreiben ist Handwerk plus eigener Abgrund, das eine ohne das andere ist nichts", erzählte Kirchhoff den neugierigen Studenten in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung schon 1994. In der Veranstaltung, die den sinnigen Titel "Legenden um den eigenen Körper" trug, berichtete er vom leidvollen Handwerk des Schriftstellers, dessen persönliche Geschichte immer mitschreibt. Damals stieß sein vorsichtiges Geständnis nicht auf offene Ohren. Die Zeit war nicht reif. Heute würde er vielleicht anders darüber reden.

"Schreiben ist Menschwerdung"

Sein neustes Buch "Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre", das in diesen Tagen seine Buchpremiere hat, ist auch eine verkappte Autobiografie. Der Titel deutet den Konfliktstoff an, der in den frühen 1950/60er Jahren die Lebenswege des Jungen Bodo Kirchhoff pflastern wird. Ein Roman, der genau zum richtigen Zeitpunkt erscheint: ein Jahr nach dem weltweiten Aufruhr durch #MeToo gibt es weitere Skandalmeldungen.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz hat - als Antwort auf die gerade veröffentlichte umfassende Studie über den massenhaften Missbrauch Minderjähriger durch Vertreter der katholischen Kirche - ein jahrelanges Wegschauen, Leugnen und Vertuschen offiziell eingeräumt.

Kardinal Reinhard Marx versprach konsequente Aufdeckung aller MissbrauchsfälleBild: picture alliance/dpa/A. Weigel

Kardinal Reinhard Marx fand dafür klare und unmissverständliche Worte: "Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde; für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden", sagte er vor der Presse. Für den Schriftsteller Bodo Kirchhoff bleibt das eine Wunde, da sei am Ende nichts zu bewältigen: "Das wahre Drama bleibt fast immer unerzählt."

 

Bücher von Bodo Kirchhoff:  

"Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre" (2018), "Widerfahrnis" (2016),"Liebesbrevier für Fortgeschrittene" (2012), "Die Liebe in groben Zügen" (2012), "Die kleine Garbo" (2006), "Wo das Meer beginnt" (2004), "Infanta" (1990), "Die Einsamkeit der Haut" (1981)

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