Boko Haram auf dem Vormarsch
9. März 2012Die Millionen-Metropole Kano im Norden Nigerias, am 20. Januar 2012. In nur wenigen Stunden explodieren mehr als 20 Sprengsätze, zerstören Polizeistationen und angrenzende Häuser, zerreißen Autos. Mehr als 180 Menschen sterben. Es ist die bisher tödlichste Anschlagsserie der Terror-Gruppe Boko-Haram.
Seit dem Jahreswechsel werden beinahe täglich irgendwo in Nigeria neue Angriffe der islamistischen Sekte verübt oder vereitelt. Seit Beginn des Terrors im Sommer 2009 sind nach Angaben von Human Rights Watch über 900 Menschen ums Leben gekommen. Mit ihren blutigen Anschlägen auf eine katholische Messe an Weihnachten 2011 hatte sich die Gruppe wieder ins internationale Bewusstsein gebombt. Die Spirale der Gewalt in Nigeria – sie dreht sich immer schneller.
Dschihad made in Nigeria
Boko Haram – in der Haussa-Sprache bedeutet das soviel wie "westliche Bildung ist verboten". Die Gruppe sieht sich selbst als Opfer von Polizeigewalt und Verfolgung. "Diese Tyrannen in der Regierung. Sie kümmern sich doch nur um sich selbst und ihre Kinder und deshalb kämpfen wir den Dschihad", sagte ein Boko Haram-Kämpfer, der nicht mit Namen genannt werden will, der Deutschen Welle. "Wir sind sehr jung und haben geschworen bis zum Ende weiterzumachen. Entweder machen sie uns fertig oder wir sie."
Ziel der Sekte, daraus machen ihre Mitglieder kein Geheimnis, ist der Sturz der Regierung und die Errichtung eines islamischen Scharia-Staates. Als Mohammed Yusuf die Gruppe Anfang 2002 nach dem Vorbild der afghanischen Taliban gründete, hatte sie nur wenige hundert Mitglieder. Inzwischen sind es nach Schätzungen von Experten mehrere tausend – gut ausgebildet und diszipliniert. Doch viel mehr ist nicht bekannt über die Islamisten mit den Kalaschnikows. Keiner weiß genau, woher sie ihre Waffen beziehen und wo die Kämpfer das Bombenbauen gelernt haben.
Nigerias Behörden verdächtigen die Nachbarstaaten. Von hier aus sollen angeblich immer neue Rekruten ins Land gelangen. "Die Grenzen zu Niger, Tschad und Kamerun sind sehr porös, Boko Haram kann sich dort problemlos bewegen", sagt Abubakar Mu'azu, politischer Analyst aus Maiduguri, einer Hochburg der Terrorgruppe im nördlichen Bundesstaat Borno. Viele Migranten in Nigeria stehen unter Generalverdacht: In den vergangenen sechs Monaten haben die nigerianischen Migrationsbehörden nach eigenen Angaben 11.000 Menschen ausgewiesen, vor allem Bürger aus dem Niger und Tschad. Doch die meisten der Abgeschobenen seien Kinder und Jugendliche, die in Nigeria Koranschulen besuchten, sagen Menschenrechtler.
Terrornetzwerk bis nach Afghanistan
Die Anschläge werden immer professioneller, immer öfter jagen sich Selbstmordattentäter in die Luft. Laut einem UN-Bericht unterhält Boko Haram Kontakte zum Terrornetzwerk Al-Kaida im Maghreb (AQMI) und bedient sich aus den Rüstungsbeständen des gestürzten libyschen Diktators Gaddafi. Einige Mitglieder von Boko Haram aus Nigeria und Tschad seien im vergangenen Sommer zur Ausbildung in AQMI-Lagern in Mali gewesen, heißt es in dem UN-Papier. "Einzelne Mitglieder haben angedeutet, dass sie in Somalia, Afghanistan und Mauretanien ausgebildet werden. Es geht hier also nicht nur um die Maghreb-Region, sondern um ein viel größeres Netzwerk", sagt Analyst Abubakar Mu'azu. Diese Verbindung müsse ernst genommen werden, denn sie könnte zu einer Bedrohung für die internationale Sicherheit werden, so Mu'azu.
Nigerias Regierung unter Präsident Goodluck Jonathan setzt auf erhöhte Militärpräsenz und verschärfte Sicherheitskontrollen. "Das macht mir wirklich Sorgen", sagt Terror-Experte Mu'azu, "statt immer nur mit Gewalt zu reagieren, sollte die Regierung endlich beginnen, mit Schlüsselfiguren der Gruppe zu verhandeln." Genau das empfiehlt auch ein von der Regierung eingesetztes Sonder-Komitee zu Boko Haram. Bedingung sei jedoch, dass die Terrorgruppe der Gewalt abschwöre, heißt es in einem Weißbuch des Sonder-Komitees. Darin steht auch: Die Regierung müsse künftig mehr gegen die hohe Arbeitslosigkeit im Norden tun. Denn die Armut und der ungleich verteilte Wohlstand im Land treiben den Rebellen die Unterstützer in die Arme. Im Norden des Landes, der Hochburg von Boko Haram, leben zwei Drittel der Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar am Tag – und das, obwohl Nigeria zu den größten Ölproduzenten der Welt gehört.
Autorin: Julia Hahn
Redaktion: Katrin Ogunsade