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Politik

Bolivien nach Evo Morales

Johan Ramírez
13. November 2019

Bolivien ging nach dem Rücktritt von Evo Morales durch ein Wechselbad der Gefühle. Aber unter all dem Jubel auf der einen und den Tränen auf der anderen Seite herrscht auf den Straßen eine Forderung vor: Dialog.

Bolivien Proteste
Bild: picture-alliance/AP Photo/N. Pisarenko

Die Hauptstadt scheint vor Freude zu explodieren. Fremde Menschen liegen sich in den Armen und viele haben Freudentränen in den Augen. Auf der Avenida Arce, im Zentrum der Stadt, hört man unaufhörlich den Ruf "Si se pudo" (Ja, wir konnten). Der Oppositionsführer Luis Fernando Camacho steigt auf das Dach eines Autos und schreit durch ein Megaphon: "Lang lebe Bolivien". Die Menge wiederholt seine Worte euphorisiert.

So waren die ersten Momente in den Straßen von La Paz, nachdem sich die Nachricht über den Rücktritt von Evo Morales verbreitet hatte. Die Menge versammelte sich vor dem Obersten Wahlgericht und improvisierte eine Siegeskarawane, angeführt von Camacho auf einem Autodach bolivianische Fahne schwenkend. Die Menschen vor Ort jubelten ihm zu wie einem Fußball-Weltmeister.

Gemischte Gefühle: Glückseligkeit und Trauer

"Was in diesen Augenblick in Bolivien passiert, hätte eigentlich schon vor Jahren geschehen müssen. Wir haben ein Limit und das hier ist das Limit, Herr Morales", sagt Franklin Bracho, ein Student aus La Paz, am Tag nach dem Rücktritt. "Ich habe gemischte Gefühle: Auf der einen Seite bin ich froh, dass wir die Demokratie wiedererlangt haben, aber andererseits bin ich auch traurig über den Vandalismus", sagt er und verweist auf die Plünderungen und Zerstörungen, die im ganzen Land in der Nacht vom Sonntag stattfanden.

Nicht nur in La Paz randalierten Menschen nach dem Rücktritt von Präsident Evo MoralesBild: Reuters/C. G. Rawlins

Nach dem Jubel am Nachmittag kamen die Stunden der Anspannung. Es kam eine Nacht der Zerstörung, in der mehr als sechzig Busse verbrannten und unzählige Geschäfte und Büros geplündert wurden. Auch Privatwohnungen wurden angegriffen, wie die des Rektors der Universität in La Paz und auch die des Ex-Präsidenten Evo Morales in Cochabamba.

"Wie alle Bolivianer in diesem Land kann ich nicht umhin traurig zu sein. Die Menschen in La Paz sind diejenigen, die am meisten unter dem Vandalismus gelitten haben", sagt die Hausfrau Aura Fernández. Sie hält kurz inne und fügt hinzu: "Aber ich bin auch glücklich, denn dies ist ein Sieg für mein geliebtes Bolivien. Morales war ein Diktator. Ja, er hat auch gute Dinge getan, aber dann wurde er zum Diktator."

Ein gespaltenes Land

Auf den tosenden Sonntagnachmittag folgt in Bolivien ein angespanntes Klima der Stille. Lokale Fernsehsender haben ihre Nachrichtensendungen wegen Drohungen gegen Journalisten eingestellt, ebenso mehrere Printmedien. Die Angst hat von allen Medien Besitz ergriffen, öffentlichen wie privaten.

La Paz: Regierungsanhänger gegen OppositionelleBild: Reuters/K. Pfaffenbach

"Wir haben immer noch Angst, der ganze Machtapparat von Evo ist immer noch da", sagt Alberto Rada, der extra aus Santa Cruz angereist ist, um an den Demonstrationen in der Hauptstadt teilzunehmen. Auf der Straße scharen sich plötzlich von allen Seiten Menschen um das Mikrofon. Es scheint, als ob jeder etwas sagen wolle, in diesen Tagen in denen sich die Zukunft des Landes entscheidet. "Das Land ist verwirrt, sagt der sechzigjährige Alvaro. Ich lebe in den USA und bin erst seit ein paar Tage wieder hier. Ich erkenne das Land kaum wieder. Warum folgt ihr diesem Typen Camacho? Das ist ein bürgerlicher Spießer." Jemand aus der Menge unterbricht: "Das sagst du, weil du nicht in Bolivien lebst." "Lass mich aussprechen, danach kannst du reden", antwortet Alvaro.

"Wir wollen alle den Frieden"

Es ist eine Momentaufnahme mit zwei gegensätzlichen Ansichten zur neuen Realität. "Es wird behauptet, dass die Zerstörung auf das Konto der Evo-Anhänger geht. Nein, das ist eine normale Reaktion der Leute", sagt Alvaro. Um ihn herum wächst die Spannung, weil die meisten, der hier Versammelten seine Meinung ablehnen.

"Darf ich reden?", fragt eine junge Studentin. Sie kommt näher und sagt: "Als Bolivianer müssen wir die Einheit suchen. Ich möchte alle Bolivianer bitten, sich in den anderen hineinzuversetzen. Denn diese Plünderungen betreffen uns alle. Man hat Häuser von Oppositionellen und von Anhängern von Evo Morales niedergebrannt. Das muss aufhören. Denn wir alle wollen den Frieden." Die versammelten Zuhörer applaudieren der jungen Frau und ihrem Appell für einen Dialog miteinander.