Im zweiten Anlauf durch die Schallmauer
8. Oktober 2020Früher dröhnten in einer Flugzeugfabrik stets die Niethämmer. Im Hangar von Boom Supersonic am Centennial Airport von Denver im US-Bundesstaat Colorado ist es dagegen ziemlich still. Es sieht fast aus wie in einem riesigen Labor, peinlich wird auf Sauberkeit geachtet. Hier fallen keine Späne, es kreischen keine Maschinen. Es wird geradezu chirurgische Präzisionsarbeit geleistet, mit Hilfe von Laser-Messgeräten auf Hundertstelmillimeter genau. Willkommen in der Flugzeugschmiede des 21. Jahrhunderts.
"Wir sind jeden Tag wieder aufgeregt, hier in unserem Hangar die Zukunft des Fliegens heranreifen zu sehen", sagt Blake Scholl. Der jugendlich wirkende 39-Jährige ist der Chef des Tech-Unternehmens Boom Supersonic, das bis Ende des Jahrzehnts mit der "Overture" den ersten kommerziellen Passagierjet mit Überschallgeschwindigkeit seit der Concorde in den Linienbetrieb bringen will.
An diesem Mittwoch feierte Boom den wichtigsten Tag der Firmengeschichte seit der Gründung 2014: Die Vorstellung der XB-1, genannt Baby Boom, war online live zu verfolgen. Das zweisitzige Demonstrationsflugzeug ist der erste jemals privat finanzierte und gebaute Überschalljet der Welt. Die XB-1 ist 21 Meter lang, weist 6,40 Meter Spannweite auf und kann zwei Testpiloten mit bis zu 2,2-facher Schallgeschwindigkeit (Mach 2,2 oder etwa 2700 km/h) über maximal 1900 Kilometer weit befördern.
Erschwinglicher Luxus
Einen Großteil ihres bisher eingesammelten Kapitals von 160 Millionen US-Dollar an Investorengeldern steckte Boom in ihr erstes Flugzeug, das Mitte 2021 - mit drei Jahren Verspätung - endlich fliegen soll. Mit dem Baby Boom genannte Demonstrationsjet, etwa ein Drittel so groß wie der spätere Overture-Passagierjet für bis zu 75 Fluggäste, soll in einem ausführlichen Testprogramm das technische Konzept validiert werden, bevor dann das Verkehrsflugzeug entsteht.
Boom sieht einen großen Nischenmarkt für neue Überschallflüge, nachdem bereits 2003 die Concorde-Ära endete. Dank neuer Technologien soll das Flugzeug so wirtschaftlich sein, dass für Überschall-Tickets nicht mehr als für heutige Langstreckenpassagen in der Business Class verlangt werden muss.
Gleichzeitig wird es nur etwa drei Viertel so groß sein wie seine britisch-französische Vorgängerin. Der neue Überschalljet weist eine Länge von 51,8 Meter und eine Spannweite von 18,2 Meter auf und ist damit erheblich kleiner als die Concorde (Länge 62 Meter, Spannweite 25,5 Meter). In der Overture-Kabine finden maximal 75 Passagiere Platz - in der Concorde waren es 100.
Nachhaltig und umweltverträglich
Die kleineren Dimensionen der Overture beflügeln die Hoffnung der Designer, den bisher unvermeidlichen Überschallknall einzugrenzen. Dass könnte dem Flugzeug möglicherweise ein größeres Einsatzfeld eröffnen. Die Concorde durfte nur über Ozeanen mit Überschalltempo unterwegs sein. Auch Boom geht davon aus, dass das Überschall-Verbot über Land vorerst bestehen bleibt - die US-Luftfahrtbehörde prüft eine Änderung für leisere Überschalljets.
Blake Scholl sieht aber auch 500 mögliche Routen für Flüge mit doppelter Schallgeschwindigkeit über Wasser. Von London nach New York in drei Stunden und 15 Minuten (anstatt sieben Stunden) oder von San Francisco nach Tokio in kaum fünfeinhalb Stunden, statt wie bislang in elf.
Ein wesentlicher Unterstützer ist die Gesellschaft Japan Airlines (JAL), die 20 Flugzeuge bestellt und angezahlt hat. Virgin Atlantic Airways von Richard Branson hat mit der nicht rückzahlbaren Leistung zweistelliger Millionensummen ebenfalls Optionen für zehn Overture erworben.
Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit ist von Anfang an ein Leitmotiv - so sollen alle Boom-Flugzeuge ausschließlich mit Bio-Kerosin fliegen. Neben Boom gibt es noch ein zweites amerikanisches Unternehmen, Aerion Supersonic, das sein Projekt eines zwölfsitzigen Überschall-Privatjets auch bis zur Mitte des Jahrzehnts verwirklichen will und ebenfalls sichtbare Fortschritte macht.
Von Russen und Europäern abgehängt
Dass die ersten und einzigen Überschall-Verkehrsflugzeuge der Welt des frühen 21. Jahrhunderts aus den USA kommen könnten, bedeutet eine Kehrtwende der Geschichte - und das Überwinden eines nationalen Traumas. Während die Vereinigten Staaten jahrzehntelang weltweit führend im Bau ziviler Passagierflugzeuge waren, versagten ihre gewaltigen Anstrengungen, in den 1960er Jahren ein riesiges Überschallflugzeug für den Reiseverkehr auf den Markt zu bringen.
Im Juni 1963 hatte Präsident John F. Kennedy verkündet, "sofort ein Programm zu beginnen, um zum frühestmöglichen Zeitpunkt den Prototypen eines kommerziell erfolgreichen Überschallflugzeugs zu entwickeln, das jedem überlegen ist, das in einem anderen Land der Welt gebaut wird."
Hintergrund war das damalige Wettrennen mit der Sowjetunion, die an einem ähnlichen Projekt arbeitete - und es am 31. Dezember 1968 schaffte, das weltweit erste zivile Überschall-Passagierflugzeug abheben zu lassen. Die Tupolew Tu-144 flog damit Monate vor der britisch-französischen Concorde. Der westeuropäische Überschalljet wurde zumindest zu einem technischen Triumph der sechziger Jahre, während das sowjetische Gegenstück nie wirklich Einsatzreife erlangte.
Hochmut kam vor dem Fall
In den USA überhob man sich dagegen an den Planungen für einen Überschall-Giganten, über 30 Meter länger als die Concorde, geplant für rund 300 Passagiere und mit fast dreifacher Schallgeschwindigkeit: Mach 2,7. Der US-Kongress zog 1971 die Reißleine und stoppte die Arbeiten. Das Boeing 2707 genannte Projekt wollte zu viel zu früh, zu einem Zeitpunkt, als viele der nötigen Technologien noch in den Kinderschuhen steckten.
Am Ende flossen damals über eine Milliarde US-Dollar (mehr als sechseinhalb Milliarden Dollar nach heutigem Wert) in das geplante Flugzeug, von dem am Ende nicht mehr übrigblieb als ein riesiges Holzmodell in Originalgröße. "Die USA haben mehr Geld ausgegeben als jemals für die Concorde ausgegeben wurde - und hatten am Ende gar nichts", schrieb der britische Concorde-Testpilot Brian Trubshaw in seinen Memoiren. Bei Boom Supersonic weiß man daher, wie es nicht laufen sollte.
Vom Autor stammt das neue Buch "Überschall-Passagierjets: Vergangenheit - Zukunft", erschienen im Motorbuch-Verlag Stuttgart, 224 Seiten.
Der Artikel wurde am 8. 10. 2020 aktualisiert.