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GesellschaftEuropa

Boomerang Kids - zurück ins "Hotel Mama"

Marcel Aburakia
7. November 2021

Zwischen Versagensängsten und Schuldgefühlen: Die Pandemie hat viele junge Menschen zurück unter das Dach ihrer Eltern gezwungen - und den "Nesthockern" das Leben noch schwerer gemacht.

Ein Zurück in die Abhängigkeit von den Eltern kann zu Depressionen führen
Ein Zurück in die Abhängigkeit von den Eltern kann zu Depressionen führenBild: Richard Brunel/PHOTOPQR/LA MONTAGNE/MAXPPP/picture alliance

Wenig hat sich im alten Kinderzimmer getan. Das Bett und die Poster von früher. Der Schreibtisch bedeckt mit einer dünnen Schicht Staub. Faissal Sharif verließ sein Heimatdorf in der hessischen Provinz jung. Mit gerade einmal 18 Jahren hinaus in die weite Welt. Weg von "Hotel Mama" für die Meilensteile des Lebens: Studium, Reisen, Arbeit, eine eigene Familie. Doch nun, mit 24 Jahren, sitzt er wieder in den alten vier Wänden - unfreiwillig. "Es gab Zeiten, in denen ich das Gefühl hatte, gescheitert zu sein", öffnet sich Faissal.

Das ist Mitte 2020. Eigentlich stünde der Student der Neurowissenschaften jetzt tagsüber in einem Labor in London, umringt von seinen 40 internationalen Kommilitonen des Imperial College. Abends hätten sie das Nachtleben im Szeneviertel Shoreditch unsicher gemacht und auf Konzerten von Skepta, Stormzy und Dave zu UK-Drill abgefeiert. Doch Faissals Alltag ist jetzt eher das Gegenteil: "Eigentlich hatte ich mich, neben dem Studium, auf viele coole Aktivitäten gefreut. Aber dann war London wie ausgestorben." Die Pandemie hatte das Leben zum Stillstand gebracht. Kein Forschungspraktikum, kein Feiern, keine Freude.

"Boomeranging back" – ein bekanntes Phänomen

Der Großteil seiner Mitstudenten musste zurück in die Heimat. Besonders die hohen Mieten sind - ohne Job, ohne Studium und ohne Freizeit - in Lockdown-London nicht mehr zu rechtfertigen. Auch Faissal bleibt keine andere Wahl.

Das Studium von Faissal Sharif verlief anders als gedachtBild: Faissal Sharif

"Es fehlt an Europa-übergreifenden Zahlen," sagt Meral Nur von der Europäischen Studenten-Union. "Wir haben aber festgestellt, dass in Kroatien vor der Pandemie 44 Prozent bei den Eltern wohnten und währenddessen dann 78 Prozent. In anderen Ländern lassen sich ähnliche Bewegungen erahnen."

Manon Deshayes ist Referentin beim Europäischen Jugendforum, einem transnationalen Zusammenschluss von Jugendverbänden und -vertretungen. Sie weist darauf hin, dass junge Menschen besonders hart von der Pandemie betroffen waren - gerade unter dem Dach der Eltern: "Corona heißt für sie: schlechtere Ausbildung, mehr Stress und ein völliger Verlust der Selbstständigkeit."

"Nesthocker" und "Nestflüchter" - große Unterschiede in Europa

Europa ist nicht homogen, wenn es um "Nesthocker" geht. Das war schon vor der Pandemie so: Während eine frühe Eigenständigkeit für Skandinavier normal ist, zeigt eine Statistik der EU, dass in Süd- und Südosteuropa eine andere Kultur herrscht. So hat "jede Region eigene finanzielle und kulturelle Rahmenbedingungen," sagt Meral Nur.

Ein verbarrikadierter Pub in LondonBild: Getty Images/AFP/D. Leal-Olivas

Verschiedene Gründe können entscheiden, wann und wie junge Erwachsene ihr Zuhause verlassen: ein schwieriger Jobmarkt, Bequemlichkeit oder auch Tradition. Unabhängig von den Umständen steche aber heraus, dass eine Gruppe überproportional leide, sagt Meral Nur: "Marginalisierte, zum Beispiel Menschen aus der LGBTIQ+-Community, haben mit der Situation zu Hause am ehesten zu kämpfen." Auch bei finanziell schwächeren Familien, die wenig Wohnraum haben, sei ein erhöhtes Reibungspotential gegeben.

Als Erwachsener im Kinderzimmer - das schlägt auf die Psyche

Für die Italienerin Giulia war das Leben im Lockdown mit ihrer Familie schwer, dennoch war Ausziehen lange keine Option. Neben dem Studium, konnte sie keinen Job finden und musste dann auch noch auf ihre Mutter, eine Risikopatientin, achtgeben: "Ich habe mich nicht getraut, auszuziehen. Es fühlte sich einfach an, als ob ich meine Mama im Stich lassen würde." Sie sagt, dass es in italienischen Familien normal sei, dass Kinder lange daheim bleiben. "Mein Bruder ist 30 und hat für uns alle finanziell sorgen müssen. Da ist Ausziehen erstmal keine Option." Sie schaffte den Absprung Ende 2020, durch Corona um Monate verzögert.

Präsenzveranstaltungen fielen an vielen Unis monatelang ausBild: Rolf Vennenbernd/dpa/picture alliance

Jennifer Caputo, Forscherin der Universität in Chicago, untersuchte die "Boomerang-Kids" in den USA und fand, dass gerade Corona-Rückkehrer häufiger unter depressiven Symptomen litten: "Wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit gilt als eines der Merkmale für einen erfolgreichen Übergang in das Erwachsenenalter. Gleiches gilt für das Leben in der eigenen Wohnung. Wenn diese Ziele nicht erreicht werden, kann dies dazu führen, dass bei den Betroffenen das Gefühl entsteht, versagt zu haben."

"Hotel Mama" hat Vor- und Nachteile

Auch für Faissal war die Zeit mit den Eltern nicht einfach: "Die Situation war schon belastend. Ich hatte das Gefühl, gescheitert zu sein," sagt er. Die größte Herausforderung "war einfach die Tatsache, dass sie meine Eltern sind. In ihren Augen bleibst du ihr Kind, egal wie alt du bist!"

Mittlerweile hat Faissal sein Studium beendet. Ohne große Abschlussfeier im pulsierenden London, sondern ruhig vor dem Bildschirm im heimischen Kinderzimmer. Er lebt und arbeitet jetzt in Berlin. Seine Eltern besucht er alle paar Monate. Trotz der Schwierigkeiten blickt er positiv auf seine Zeit dort zurück. "Es war zwar ein Kulturschock aus London ins Kaff zu meinen Eltern zu ziehen, aber irgendwo war es auch schön. Das zeigt, dass es immer einen Ort gibt, an den ich zurückkehren kann."

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