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Politik

Johnsons verhagelter Super-Samstag

Barbara Wesel London
19. Oktober 2019

Boris Johnson hat eine weitere Abstimmungsniederlage erlebt. Statt für seinen Brexit-Deal zu stimmen, zwangen die britischen Abgeordneten dem Premier eine weitere Verlängerung auf. Von Barbara Wesel, London.

Premierminister von Großbritannien, gibt im Unterhaus eine Erklärung ab
Bild: picture-alliance/dpa

Am Ende waren es 322 Ja- zu 306 Neinstimmen, die Boris Johnson seinen Super-Samstag im Unterhaus gründlich verhagelten. Es sind die findigen Füchse in Verfahrensfragen, denen es hier immer wieder gelingt, den Premier auszumanövrieren. Ausgerechnet Ex-Tory Oliver Letwin, bis vor kurzem noch Mitglied der Regierungsfraktion, hatte den Antrag formuliert, der Johnson eine weitere Verlängerung aufzwingt, um mehr Zeit für die Diskussion über seinen Brexit-Deal zu gewinnen.

Rechtlich wird der Premier jetzt verpflichtet, die Europäische Union um eine weitere Fristverschiebung zu bitten. Die gesamte Opposition hatte den Antrag unterstützt, weil sie nicht unter Zeitdruck bis zum 31. Oktober das Abkommen durchwinken will. Die Labour Party erlebte dabei das seltene Schauspiel, mit ihren Todfeinden von der nordirischen DUP, sonst Unterstützer der Regierung, bei der Abstimmung durch die Ja-Lobby des Unterhauses zu schreiten.

Boris Johnson zog alle Register

Sein Vorgänger David Cameron hat Boris Johnson vor ein paar Tagen im Interview ein "geöltes Schweinchen" genannt, das durch alle Ritzen flutschen kann, wo andere an den Widerständen scheitern. Diese Eigenschaft allerdings hat ihm nicht geholfen, eine weitere Abstimmungsniederlage abzuwenden.

Johnson, den man im Unterhaus schon aggressiv und flegelhaft erlebt hat, oder auch clownesk und unkonzentriert, gab hier den Staatsmann. Das britische Volk wolle den Brexit hinter sich bringen, damit sich die Regierung anderen Fragen zuwenden könne. "Lasst und zusammenkommen und stimmt für diesen Deal", beschwor er die Abgeordneten zu Beginn der fünfstündigen Debatte in serösem Ton. Und einmal mehr versprach er allen alles: den Brexiteers, dass man am Ende der Übergangsperiode auch ohne Handelsabkommen mit der EU aussteigen könne, und der Labour Party, dass er nicht die Absicht habe, Schutzrechte für Arbeitnehmer und Verbraucher abzubauen.

Labour-Chef Corbyn: "Ökonomisches Desaster"Bild: picture-alliance/AP Photo

Aber ohne Erfolg. Der Chef der Labour-Party Jeremy Corbyn schimpfte einmal mehr auf das Abkommen mit der EU, weil darin für die Zukunft nur ein loses Verhältnis zur EU und bestenfalls ein Handelsvertrag vorgesehen sei. Dieser Deal sei sogar schlechter als der von Johnson-Vorgängerin Theresa May, wetterte er. Das Abkommen würde "Jobs, Rechte von Arbeitnehmern, unsere Umwelt und unser Gesundheitssystem" gefährden. Aber die Labour-Party hatte sowieso entschieden, diesen "Tory-Brexit" niederzustimmen.

Auf in die nächste Verlängerung

Am Ende reichten die Kräfte der vereinten Opposition, im Bund mit der wütenden DUP und ein paar Tory Rebellen, um dem Premierminister das für ihn unerfreulichste Ergebnis zu verpassen. Jetzt ist Johnson eigentlich dazu verdonnert, bis 23 Uhr an diesem Samstag einen Brief mit der Bitte um Verlängerung nach Brüssel zu schicken - eigentlich.

"Das war ziemlich knapp heute", erklärte Boris Johnson nach der erneuten Niederlage, wobei eine Mehrheit von 16 Stimmen gegen ihn so kümmerlich nicht ist. Er sei nicht verärgert über das Ergebnis und glaube weiter, dass das Beste für Großbritannien sei, die EU am 31. Oktober zu verlassen. Trotzig fügte er hinzu: "Ich bin nicht verpflichtet, einen Aufschub mit der EU zu vereinbaren, und das Gesetz zwingt mich auch nicht dazu."

Premier Johnson: "Stimmt für diesen Deal!"Bild: Reuters/Parliament TV

Sofort gingen die Spekulationen wieder los, auf welchem Wege er sich dem entziehen könnte. Die Juristen aufseiten der Opposition aber haben schon vorgesorgt: Bei einem schottischen Gericht ist bereits ein Verfahren anhängig, mit dem schon am Montag ein Richterspruch erwirkt werden kann, der die Regierung zur Fristverlängerung zwingen würde.

Der mächtige Unterhaus-Speaker John Bercow erklärte sich bereit, statt Johnson selbst den Brief an die EU zu schreiben, falls das Gericht ihn darum bitten würde. Sogar der britische EU-Botschafter in Brüssel könnte ihn im Auftrag der Regierung zustellen, wenn Boris Johnson seine eigene Unterschrift nicht darauf setzen möchte.

Allerdings kämpft der Premier weiter, die Sitzung am Sonnabend war nur eine kurze Atempause. Schon am Montagabend will er die Abstimmung über den Brexit-Deal wieder ins Parlament bringen. Die Frage ist, ober der Speaker das mitmacht. Denn John Bercow, entscheidet darüber, über welche Vorlagen abgestimmt wird. Er hatte ja einst schon Theresa May in die Schranken gewiesen und ihr verweigert, zweimal über die gleiche Vorlage abstimmen zu lassen.

Ex-Regierungschefin May: In die Schranken gewiesenBild: picture-alliance/dpa/PA Wire/House of Commons

Einmal mehr ist die politische Situation unübersichtlich, aber die "Dynamik läuft jetzt gegen Boris Johnson, der nicht als strahlender Sieger sondern als Verlierer dasteht", sagt Anand Menon von der Denkfabrik "Changing Europe". Je mehr Zeit er mit der Diskussion seines Abkommens verbringen müsse, desto mehr werde die Labour Party mit ihrem Argument gestärkt, dieses sei schlecht für die britischen Bürger und ein ökonomisches Desaster für das Vereinigte Königreich.

Ein neuer Hoffnungsfunken

Draußen vor den Toren des Unterhauses hatte sich eine vieltausendköpfige Menge versammelt, ausgerüstet mit Europafahnen, Hunden und Kindern in Europa-Lätzchen. Vom Greis bis zum Neugeborenen waren die Demonstranten aus allen Teilen des Königreichs gekommen, um erneut ihren Zorn über den Brexit zu zeigen und vor allem ein zweites Referendum zu verlangen. Als die Abstimmung über die Verlängerung durchging, hörte man auf dem Parliament Square einen Jubelschrei aus allen Kehlen: "Yeeeaah" schallte es über den Platz.

Lehrerin Anna war extra aus Schottland gekommen, sechs Stunden mit der Bahn, um an dem Protestzug teilzunehmen. "Wir verlieren alle durch den Brexit, daraus ist eine rechte Ideologie geworden", klagt sie. Nach dreieinhalb Jahren bitterer Diskussion müssten die Bürger jetzt entscheiden dürfen, was sie wirklich wollen.

Landwirt Mark: "Es muss ein zweites Referendum geben"Bild: DW/B. Wesel

Landwirt Mark kommt aus Sussex, wo es viele kleine Farmen gibt: "Viele Bauern haben damals für den Brexit gestimmt, weil sie nicht verstanden haben, dass sie ihre Subventionen verlieren werden, die aus Brüssel kommen. Jetzt wissen wir alle mehr, es muss unbedingt ein zweites Referendum geben." Er ist wütend und ein bisschen verzweifelt wegen des Brexits, denn für Bauern wie ihn kann er das Aus bedeuten. "Meine Schafe und das Rindfleisch - wohin soll ich die verkaufen wenn nicht in die EU?"

Und sehen die Demonstranten jetzt noch einmal einen Hoffnungsschimmer, durch den Aufschub zu einem zweiten Referendum zu kommen? "Mein Kopf sagt 'Nein', aber mein Herz sagt 'Ja'", macht sich ein junger Londoner Mut. "Ich habe eine deutsche Frau, meine Kinder sind Europäer, wir sind alle Europäer", sagt ein Familienvater, der mit dem ganzen Clan gekommen ist, inklusive Großeltern. "Jetzt gibt es vielleicht noch einmal ein ganz kleines Zeitfenster für eine zweite Abstimmung". Bei den Demonstranten an diesem Nachmittag in London ist der Wunsch erkennbar Vater des Gedankens. Und wenn es nicht klappt, dann müssen sie ihren Protest wohl zum Abgesang und Trauermarsch auf ihr Leben in der Europäischen Union umdefinieren.

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