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Politik

"Wir werden nicht alle integrieren können"

Neil King | Gabriel Borrud
24. August 2017

Tübingens Grüner Oberbürgermeister Boris Palmer fordert in seinem neuen Buch eine ehrliche Debatte über Flüchtlinge und Zuwanderung. Im DW-Interview warnt er davor, die Ängste der Bürger zu ignorieren.

Deutschland Wegscheid Flüchtlinge nahe Grenze zu Österreich
Bild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

DW: Herr Palmer,  viele Parteikollegen kritisieren ihre Haltung in der Asyl- und Integrationsdebatte. Sie legen mit ihrem neuen Buch nochmal nach. Warum liegt ihnen dieses Thema so am Herzen?

Boris Palmer: Die Asylfrage ist in den Städten und Gemeinden in den letzten zwei Jahren zur wichtigsten überhaupt geworden. Sie hat die tägliche Arbeit in den Städten und Gemeinden sehr stark geprägt, auch meine als Oberbürgermeister. Und ich möchte zwei Dinge in diesem Buch besprechen, nämlich zum einen, was ist die Wirklichkeit, die ich vor Ort gesehen habe. Die weicht meiner Meinung nach von dem, was geschrieben wurde an vielen Stellen ab. Und zum anderen, wie können wir denn bei den sehr stark verschiedenen Auffassungen zur Asylfrage vernünftig miteinander reden, ohne uns sofort zu beschimpfen.

Palmer: Sorgen der Bevölkerung ernst nehmenBild: picture-alliance/dpa/C. Schmidt

Was sind denn die ersten Anzeichen dafür, dass eine Gesellschaft mit der Integration von Neuankömmlingen überfordert ist?

In einer Demokratie ist es so, dass sich das zuerst bei Wahlergebnissen zeigt. In Deutschland war die AfD quasi schon in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, weil die Eurokrise gelöst war. Dann kam das Asylthema und sie hat hier im Landtag von Baden-Württemberg 15 Prozent der Sitze errungen. Das ist bemerkenswert viel. Für viele Menschen ist die Stimme für die AfD keineswegs die Identifikation mit der Partei, oder gar mit den rechten Gesinnungen, die dort vertreten werden, sondern schlicht die Ansage an die Politik: "Ich mache mir Sorgen wegen der Asylfrage, bitte ändert da was." Und das muss man ernst nehmen.

Wie sieht es mit der Grenzsicherung aus?

Als ich vor zwei Jahren gesagt habe, dass es nicht möglich ist, dauerhaft 10.000 Menschen pro Tag in Deutschland aufzunehmen und dass wir aus diesem Grund Grenzsicherung benötigen, da war das der Beginn der Auseinandersetzung mit meiner Partei, die diesen Satz vehement abgelehnt hat. Heute haben wir die Situation, in der die europäische Außengrenze kontrolliert wird und deswegen nur noch ein Zehntel, nämlich etwa 1000 Menschen pro Tag, in Deutschland ankommen. Das ist der Unterschied zwischen einer verkraftbaren Dimension und einer nicht verkraftbaren Dimension. 

Was macht Sie skeptisch, dass wir nicht alle integrieren können?

Zum einen ist es schlicht eine Frage der Zahlen. Aber wie schaffen wir Wohnraum in so kurzer Zeit? Woher kommen die Kindergärtnerinnen, die Erzieher, die Lehrer, die Deutschlehrer, die Ausbildungsplätze? Das braucht menschliche Ressourcen und Zeit und die sind nicht unbegrenzt verfügbar, in keinem Land. Und natürlich werden wir auch nicht alle integrieren können. Die Erfahrung zeigt, bei dem Qualifikations-Profil, das viele der Flüchtlinge haben, muss man auch nach zehn Jahren noch mit 50 Prozent Arbeitslosigkeit rechnen. Das ist eine realistische Einschätzung. 

Wer sollte bei der Auswahl Vorrang haben?

Wenn es um die Grenzkontrollen geht, muss es so sein, dass das Asylverfahren an der europäischen Außengrenze begonnen wird und dann entschieden wird, wer Anspruch hat zu kommen. Wer keinen hat, muss zurückgewiesen werden. In der Regel kommen an den Außengrenzen nur die stärkeren an - junge Männer, die sich durchschlagen, während Familien, Kinder und Alte zurückbleiben. Das ist jetzt nicht gerade die Flüchtlingspolitik, die ich mir wünsche.

Wir sollten direkt in den Krisenregionen der Welt, vor Ort Möglichkeiten schaffen, Asyl zu beantragen oder auch Kontingente, also feste Zahlen von Aufnahmebereitschaft definieren. Wenn wir zum Beispiel sagen würden, 100.000 Flüchtlinge können aus Syrien direkt zu uns kommen, in der deutschen Botschaft oder über die umliegenden Botschaften Asyl beantragen, dann müssten sie sich nicht mühsam durchschlagen. Dann wäre das eine sehr viel humanere und gerechtere Flüchtlingspolitik, weil sie nicht wie jetzt dazu führen würde, dass Familien auseinandergerissen werden.

Die Debatte polarisiert viele Deutsche. Sie haben in ihrem Buch auch die Art und Weise, wie die Debatte in der Politik und in den Medien geführt wird, kritisiert. Was läuft hier ihrer Meinung nach schief?

Ich habe den Eindruck, dass das Hauptproblem darin besteht, dass wir uns gegenseitig dämonisieren. Die einen werfen den anderen vor, sie seien naiv dümmliche Gutmenschen, sie würden das deutsche Volk austauschen wollen, sie seien bereit hinzunehmen, dass Asylbewerber Massenvergewaltigungen durchführen. Da wird alles Böse den Menschen unterstellt, die nur helfen wollen.

Und umgekehrt wird aber auch dämonisiert. Da wird all denen die sagen: "Ich finde es ungerecht. Für mich gibt es keine Sozialwohnung, für die Asylbewerber wird gebaut. Ich finde es nicht in Ordnung, dass so viele von denen kommen. Mir ist es zu viel Kriminalität auf den öffentlichen Plätzen." Denen wird dann immer vorgeworfen, sie seien fremdenfeindlich, Neonazis, mindestens AfD-Wähler. Da wird genauso dämonisiert. Und dazwischen gibt's ganz wenig.

Manche haben die Bunderegierung aufgefordert, die Grenzen zu schließenBild: picture-alliance/dpa/M. Schutt

Manche Deutsche befürchten, dass der Zuzug von Muslimen zu einem neuen Kulturkampf führen könnte. Teilen Sie diese Ängste?

Nein, ich glaube nicht, dass es so gravierend ist. Aber auf der anderen Seite meine ich schon, dass wir realistisch anerkennen sollten wenn Menschen, die ihr ganzes Leben lang in einem völlig anderen Kulturkreis geprägt wurden, wo die Frau eine andere Rolle hat, wo die Religion eine andere Rolle spielt, wo der Umgang mit Schwulen und Lesben eine andere Rolle spielt, wo Kleidung eine andere Rolle hat, dass die nicht zu uns kommen und alles an der Grenze ablegen und dann plötzlich unsere Kultur übernehmen. Das ist einfach nicht wahrscheinlich. 

Deswegen ist Integration eine schwierige Aufgabe. Den Mittelweg zu finden - Toleranz üben  und unsere eigenen Vorstellungen vom Leben erhalten - das ist ein schwieriger Aushandlungsprozess. Wir sollten aufhören, diese Ängste sofort zu dämonisieren, sie sind real. Wir sollten aber auch nicht so tun, als würde morgen das Osmanische Reich Westeuropa niederbrennen und unsere Kultur ausrotten. Beides ist einfach nicht das, worum es geht.

Wir haben auf unserer Reportagereise einen deutschen Schüler getroffen, der sagte, dass einige Flüchtlinge derzeit nur zum Abkassieren hier seien, und kein Interesse daran hätten, Deutsch zu lernen oder sich zu integrieren. Sind das schwarze Schafe oder ist es doch ein größeres Problem?

Zahlenmäßig sind es nicht so wenig, die so reagieren. Das hat auch ein bisschen was damit zu tun, nach meinen Erfahrungen in Gesprächen mit Lehrern, die in Berufsvorbereitungsklassen tätig sind, dass die jungen Männer natürlich aus ihrem familiären Umfeld rausgerissen sind. Da fehlt einfach das Elternhaus, der Kulturbruch ist wahnsinnig schwierig zu verarbeiten, alles ist ganz anders hier. Deswegen gibt es relativ viele, die tatsächlich dann nach kurzer Zeit auch einfach die Schule schmeißen und dann nur noch im Botanischen Garten auftauchen und mit Drogen ihr Geld verdienen. Es ist ein ernsthaftes Problem und es ist auch eine Form von Vernachlässigung, das nicht zur Kenntnis zu nehmen, oder zu behaupten, es sei Rassismus.

Wir haben auch eine Schule in Heilbronn besucht, wo der Migrationshintergrund der Schüler bei 80 Prozent lag. Wir haben dabei eine interessante Erfahrung gemacht. Wir haben eine Gruppe in der Klasse gefragt: Wer ist hier Deutsch, bitte die Hände hoch? Keiner hat die Hand gehoben. Und einige von ihnen sind in Deutschland geboren. Ist das ein Problem oder kann die Gesellschaft das verkraften?

Deutschland ist eben kein Einwanderungsland wie Amerika, sondern wir haben immer von Gastarbeitern gesprochen. Und wenn wir das ändern wollen, was ich für richtig halte, dann müssen wir uns stärker vergewissern, was ist denn für uns der Kern meinetwegen der deutschen Identität oder was ist unsere Leitkultur. Von Anfang an müssen wir Einwanderung als einen Prozess begreifen, der auf Dauer angelegt ist, und das Ziel hat, dass beide zueinander kommen. Das Bewusstsein gab es in Deutschland bisher nicht so. Man hat Gäste geduldet, und es ist auch kein Wunder, wenn die sich nicht zugehörig fühlen.

Das neue Buch von Boris Palmer, "Wir können nicht allen helfen: Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit" wurde Anfang August veröffentlicht.

Das Gespräch führten Neil King und Gabriel Borrud.

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