Bosnien: Aus Feinden werden Freunde
22. August 2017Oktober 1992, an der Front bei Skelani nahe Srebrenica: Zwei Soldaten begegnen sich, die Waffen im Anschlag. Der bosnische Muslim Daut Tihic ist schneller und schießt den Serben Dane Vasic nieder.
Jahre später - der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist längst beendet. Daut hat ihn überlebt. Einige Jahre hat er als Flüchtling in Schweden verbracht. Dann kam er zurück, kaufte zuerst ein Haus in Breza bei Sarajevo. Später kehrte er zurück in sein Heimatdorf Skelani. Er kaufte ein paar Kühe und arbeitete als Landwirt.
Als er im Herbst 2006 mit Freunden in der Dorfkneipe saß, ging ein Mann an seinem Tisch vorbei. Er grüßte in die Runde und setzte sich an einen anderen Tisch. Daut traute seinen Augen nicht.
"Das ist der Mann, den ich getötet habe", rief Daut seinen Kumpels zu. Er stand auf, ging zu dem Mann und sagte: "Ich habe dich getötet!" Der lachte und fragte zurück: "Siehst du nicht, dass ich am Leben bin?"
Daut erinnert sich: "Im Oktober 1992 bin ich mit meiner Familie von Skelani in die Berge ins Dorf Miljevine entkommen. Wir haben gehört, dass die Serben einen Angriff auf die Dörfer Josevo und Jagodnja vorbereiteten. Mit einer Handvoll Soldaten kam ich den Dorfbewohnern zur Hilfe. Plötzlich sah ich wenige Meter von mir entfernt einen serbischen Soldaten. Er stand langsam auf und ging mit dem Gewehr auf mich zu. Ich schoss und traf ihn in die Brust. Er fiel auf den Rücken. Ich war überzeugt, dass er tot war."
Danach sei er ins Dorf geeilt. "Der Kampf dauerte nicht lange. Wir haben den Angriff abgewehrt und die Dorfbewohner verteidigt. Auf dem Rückweg sah ich weder den serbischen Soldaten noch das Gewehr. Ich dachte, dass ihn seine Leute weggebracht haben, denn ich konnte sehen, dass es sich um eine Eliteeinheit handelte."
Wie sich herausstellte, hieß der serbische Soldat Dane Vasic. "Ehrlich gesagt, ich freue mich aufrichtig, dass er lebt", sagt Daut Tihic im Gespräch mit der DW. "So habe ich ihn nicht auf dem Gewissen." Und so kam es 2006 zum offiziellen Kennenlernen - mit Schnaps, wie auf dem Balkan üblich.
"Wegen der ständigen Attacken aus diesen Dörfern haben wir diese Aktion geplant", erinnert sich der Serbe. "Ich kannte das Gelände und wurde zur Aufklärung beordert. Es sollte eine Routineaktion werden. Irgendwann habe ich Geräusche, ein Knacken gehört. Ich drehte mich um und sah einen Mann, der eine Pistole auf mich richtete." Er habe zunächst nicht gewusst, zu welcher Kriegspartei er gehöre. "Dieser Moment der Unentschlossenheit war von entscheidender Bedeutung für ihn. Er war schneller, sonst hätte ich ihn getötet. Ich hörte die Schüsse nicht. Das Letzte, was ich sah, war der Lauf seiner Waffe. Ich spürte einen heftigen Schlag, der mich um mehrere Meter zurückwarf. Als ich wieder zu mir kam, sah ich den zerstörten Gewehrkolben und die kaputte kugelsichere Weste. Sie hat mich gerettet. Ich hatte das unglaubliche Glück, unverletzt zu bleiben", sagt Dane Vasic.
Freundschaft und gemeinsame Investitionen
Nach der Begegnung in der Kneipe sind Daut und Dane nicht nur Freunde geworden, sondern auch Geschäftspartner. Sie planen sogar gemeinsame Investitionen. Dane lebt auf der anderer Seite des Flusses Drina in Serbien. Er kauft und verkauft Kräuter und Waldfrüchte, hat einen LKW und ist Besitzer mehrerer Souvenirshops.
"Wir planen, eine gemeinsame Firma zu eröffnen, die seine und meine Geschäftsaktivitäten verbinden würde. Wir haben einen Projektentwurf vorgelegt, aber die Entscheidung der lokalen Verwaltung lässt auf sich warten", sagt Daut. Dane nickt: "Es kam zu Verzögerungen, ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß, dass wir beschlossen haben, zusammen zu arbeiten, und ich bin sicher, dass uns das gelingen wird."
"Es scheint mir, dass manche Politiker unsere gute Beziehung und Zusammenarbeit nicht gerne sehen. Sie hätten es lieber, wenn wir uns streiten und bekriegen, und dass jeder von uns in seinem ethnischen Ghetto lebt. So können sie an der Macht bleiben und leichter regieren", sagt der bosnische Muslim Daut.
Sie begannen, offen darüber zu reden, wer, was, wo während des Krieges getan hat. "Ich muss mich nicht schämen", sagte der Serbe. "Ich habe nichts Falsches oder Illegales gemacht. Ich war ein Soldat wie er. Ich schoss auf ihn, er auf mich. So ist der Krieg: Du schießt, um nicht erschossen zu werden. Ich denke, weder ich noch Daut wollten diesen Krieg." Kein Krieg - da sind sich beide einig - hat je etwas Gutes gebracht.
Die wahre Geschichte von Dane und Daut wurde im Rahmen des diesjährigen Sarajevo-Filmfestivals gezeigt. Den Dokumentarfilm "(Ne)Prijatelji - (Nicht)Freunde" haben die bosnischen Autoren Emir Kapetanović und Sead Kreševljaković in Kooperation mit Al Jazeera gedreht. Das Sarajevo-Filmfestival (11. - 18.8.) ist das bedeutendste Filmfestival des Westbalkans.