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Politik

Bosnien: Die Verantwortung des Westens

Bodo Weber
20. November 2020

Es ist Zeit für die EU, ihre Verantwortung für ein stabiles, demokratisches und ökonomisch prosperierendes Bosnien und Herzegowina endlich wahrzunehmen, meint Gastautor Bodo Weber. Denn das liegt in Europas Interesse

Symbolbild Bosnien Herzegowina EU
Die Fahnen der EU und Bosnien und Herzegowinas wehen im Januar 2019 in Brüssel Bild: picture-alliance/AA/D. Aydemir

Am 21. November 2020 jährt sich zum 25. Mal der Abschuss der Verhandlungen über das Abkommen, mit dem der Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet wurde und die ex-jugoslawische Republik ihre heutige Staats- und Verfassungsordnung bekam. Nach dreieinhalb Jahren des Tötens war der Friedensschluss für den heute geopolitisch marginalen Westbalkanstaat ein Akt von weltpolitischer Bedeutung.

"Lost in transition"

Umso erschreckender ist es, dass Bosnien 25 Jahre nach Dayton gefangen bleibt in inter-ethnischen Spannungen, Dysfunktionalität von Staat und politischem System, sozio-ökonomischem Stillstand - und seit einigen Jahren zudem dermassenhaften Auswanderung als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger.

Die destruktive Dynamik von ethno-nationalistischer Rhetorik und fehlendem gesellschaftspolitischem Grundkonsens über Charakter und Struktur des Staates ist keine Folge irgendeines uralten Hasses der drei "konstitutiven Völker" (muslimische Bosniaken, Kroaten und Serben). Vielmehr ist sie logisches Resultat von 25 Jahren, in denen Bosnien von der sogenannten Daytoner bis zur "Brüsseler Phase" seiner Nachkriegsgeschichte "lost in transition" geblieben ist.

Die Präsidenten der am Bosnien-Krieg beteiligten Staaten nach den Friedensverhandlungen in Dayton/Ohio am 21. November 1995 (v.l.n.r.): Slobodan Milošević (Serbien), Alija Izetbegović (Bosnien) und Franjo Tudjman (Kroatien)Bild: Getty Images/AFP/J. Ruthroff

In Dayton wurde 1995 ein Waffenstillstand zwischen den kriegführenden Parteien, herbeigeführt durch eine begrenzte militärische Intervention der NATO, in eine Verfassung gegossen: die "Dayton-Verfassung". Ziel war die Wiederherstellung von Frieden, Sicherheit und Bewegungsfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger des Landes - aber weder die Schaffung eines funktionalen Staates noch die eines Grundkonsenses über den Charakter dieses Staates.

Ganz im Gegenteil: Deren Fehlen war Voraussetzung für die Einigung der Kriegsparteien. Insofern war das Dokument von seinen westlichen Co-Autoren auch lediglich als Übergangsverfassung von drei bis vier Jahren Lebensdauer gedacht.

Der Sitz des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in der bosnischen Hauptstadt SarajewoBild: DW/S. Huseinovic

Die mit Hilfe des internationalen Halbprotektorats, den mit exekutivem Mandat ausgestatteten Daytoner Institutionen der internationalen Gemeinschaft - allen voran das Büro des "Hohen Repräsentanten" (engl. "Office of the High Representative", kurz: OHR) und der NATO-Schutztruppe SFOR bzw. später EUFOR - in Kooperation mit lokalen politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zwischen 1998 und 2005 betriebene Politik des "Statebuilding" erzielte die Basisfunktionalität von Staat, Demokratie und Rechtsstaat sowie den Beginn des EU-Integrationsprozesses. Bosnien schien sich auf dem Weg zu einem normalen europäischen Staat zu befinden.

Stillstand und Rückschritte

Der Wechsel von der Daytoner zur Brüsseler Phase in den Jahren 2005 bis 2006 sollte diesen Prozess hin zu nachhaltiger Befriedung, Demokratisierung und Europäisierung abschließen - geriet jedoch zum negativen Wendepunkt. Der doppelte Politikwechsel des Übergangs westlicher Führungsrolle in Bosnien von den USA auf die EU sowie des sogenannten "transition to ownership" - von der Politik des externen Statebuilding zur vollständigen Übergabe der Verantwortung an die einheimischen politischen Akteure - führte erst zu einem umfassenden Stillstand und dann zu Rückschritten.

Die vermeintliche Transition geriet zur Farce: Anstatt eines verantwortungsvollen, schrittweisen Übergangs zu vollständiger Verantwortung der lokalen Akteure in Bosnien, wurde ihnen diese quasi über Nacht übergekippt. Damit entlarvte sich auch die wahre Motivation der internationalen Gemeinschaft: Es ging nicht um "ownership" sondern darum, das ressourcen- und kostenintensive Engagement im Nachkriegsbosnien loszuwerden.

25 Jahre nach Kriegsende geht es noch immer nicht ohne sie: Soldaten der Schutztuppe EUFOR in BosnienBild: DW/D. Planert

Die abrupte Übergabe bedeutete den Wechsel von der internationalen Durchsetzung demokratischer Grundregeln zu Regellosigkeit unter Beibehaltung der dysfunktionalen Daytoner Verfassungsordnung - ein Schritt mit fatalen Folgen: der Re-Ethnisierung und Re-Radikalisierung des politischen Narrativs; dem Zusammenbruch der Politik von Dialog und Kompromiss; der politischen Dauerblockade von Regierungen und Parlamenten; und dem umfassenden Rückbau schon erzielter Reformfortschritte in praktisch allen Bereichen.

Auch die euro-atlantische Integration wurde nun dauerhaft blockiert. Der Aufstieg von Milorad Dodik zum starken Mann der "Republika Srpska" und dominierenden Destabilisierungsfaktor für Gesamt-Bosnien stellte sowohl das Produkt wie die Verkörperung diese Wende dar.

Reformwiderstände der Eliten

Zudem hat die EU ihre Führungsrolle bis heute nicht wirklich angenommen. Es fehlt der politische Wille, die Strukturprobleme Bosniens anzugehen sowie eine darauf basierende Langzeitstrategie zu entwickeln und konsequent zu verfolgen. Diverse Versuche einer minimalistischen Verfassungsreform scheiterten, weil die politischen Eliten in Bosnien sie als das erkannten, was sie für die EU waren: ein Mittel zum Rückzug aus der politischen Verantwortung in Bosnien-Herzegowina.

Anstatt den eigenen Ansatz kritisch zu hinterfragen, schlussfolgerte die EU aus dem Scheitern, dass eine Verfassungsreform in Bosnien an sich unmöglich sei. Ohne politischen Führungswillen schaltete sie ihre Erweiterungspolitik gegenüber dem Land auf bürokratischen Autopiloten. Und auf Reformwiderstände der regierenden ethno-nationalistischen Eliten reagierte Europa mit einem Herabsenken der Reformbedingungen.

Anstatt wenigstens minimalen Fortschritt zu ermöglichen, degenerierte die Erweiterungspolitik folgerichtig zur reinen Simulation. Ein absurdes Schauspiel, das den Rückbau von Reformen durch die politischen Eliten legitimierte, und diese lehrte, dass sie nur lang genug Widerstand leisten müssen, bis die EU einknickt; und die EU gegenüber den Bürger_innen Bosniens als das entlarvte, als was sie sich präsentierte - als scheinheiligen Akteur, dessen Reden von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und EU-Integration nicht ernst zu nehmen sind.

Bosnien ist in der Dayton-Ordnung gefangen, weil sich der Westen zu früh seiner Verantwortung entzogen hat. Konkreter: weil die EU sich bis heute ihrer Führungsrolle verweigert. Die Verfassung erhält ein auf Patronage und permanentes Schüren interethnischer kollektiver Ängste gründendes politisches System am Leben. Einem dysfunktionalen Staat, der für die politischen Eliten perfekt funktioniert - aber nicht für die Bürgerinnen und Bürger.

Höchste Zeit für EU-Langzeitstrategie 

25 Jahre nach Dayton ist es Zeit für die EU, ihre Verantwortung und ihr Interesse in ein stabiles, demokratisches und ökonomisch prosperierendes Bosnien-Herzegowina endlich wahrzunehmen. Der im Mai 2019 von der Europäischen Kommission veröffentlichte Avis zur Erlangung des EU-Kandidatenstatus hat nach fast eineinhalb Jahrzehnten inkonsistenter europäischer und westlicher Politik den Weg in die richtige Richtung gewiesen.

Allerdings sind die darin steckenden Potenziale für eine ernsthafte Politikwende der EU gegenüber Bosnien bisher ungenutzt geblieben. Es obliegt dem Europäischen Rat, eine auf dem Avis basierende, umfassende politische Langzeitstrategie für Bosnien-Herzegowina vorzulegen, dessen Kern eine Verfassungsreform bilden muss. Es geht nicht um irgendein Dayton 2, sondern um politische Prinzipien für eine umfassende Reform der Verfassung, die die notwendigen Voraussetzungen hinsichtlich Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft schaffen, damit das Land EU-Mitglied werden kann.

Für so eine Initiative im Rat bedarf es einer Koalition von willigen Mitgliedsstaaten. Deutschland ist am besten positioniert, diese anzuführen. Es wäre auch im Sinne von Kanzlerin Merkels EU-erweiterungspolitischem Erbe, wenn sie vor ihrem politischen Abtritt Ende 2021 diesen Prozess einleiten und anführen würde.

Dabei wäre es von entscheidender Bedeutung, dass die EU die Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas als ihre eigentlichen Verbündeten in einer umfassenden Reform identifiziert und einbezieht. Es braucht dieses Bündnis, weil sich gezeigt hat, dass die Fortexistenz der Dayton-Verfassungsordnung zu hohe Hürden für einen evolutionären wie revolutionären, institutionellen wie außer-institutionellen Prozess hin zu umfassender Verfassungsreform hinterlassen hat, die ohne die verantwortungsvolle Unterstützung von außen, von EU und USA, von innen nicht zu überwinden sind."

Bild: Privat

Bodo Weber ist Senior Associate des Democratization Policy Council (DPC), einer transatlantischen Denkfabrik mit Sitz in Berlin. Er arbeitet seit drei Jahrzehnten zum Westbalkan und kommentiert regelmäßig die internationale Politik gegenüber der Region in regionalen, deutschen und internationalen Medien.