1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Bosnien: Es brodelt wieder

Zorica Ilic
27. Juli 2022

Im Herbst stehen Wahlen an, und seit Monaten streiten die drei Ethnien um das Wahlgesetz. Mittendrin in der Kontroverse der Hohe Repräsentant, ein Deutscher. Ein Erklärungsversuch eines besonders komplexen Landes.

Bosnien Herzegowina Christian Schmidt
Bild: Elvis Barukcic/AFP/Getty Images

"Wir wollen ein Land, in dem alle Menschen gleich sind", steht auf einem der zahlreichen Transparente. Rund 7000 Bürgerinnen und Bürger versammelten sich Anfang der Woche vor dem Büro des Hohen Repräsentanten in Sarajevo (OHR). Leiter dieser Institution der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina (BiH) ist ein Deutscher, Christian Schmidt, ehemaliger deutscher Landwirtschaftsminister. Die Botschaft der Demonstranten an Schmidt ist klar: Wir werden keine Änderungen am Wahlgesetz akzeptieren.

Der Hintergrund: Schmidt will Änderungen am Wahlgesetz vornehmen. Kritiker der angeblichen Gesetzeskorrektur sprechen von Diskriminierung, Apartheid, sogar von neuem Völkermord.

Nahezu zeitgleich kommt an einem anderen Ort in Bosnien und Herzegowina - in Mostar - der kroatische Premierminister Andrej Plenković zu Besuch. Seine Gesprächspartner: Vertreter der Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) von Bosnien und Herzegowina - der stärksten kroatischen Partei in Bosnien und Herzegowina. Sie begrüßen Schmidts Wahlgesetzreform.

Umstrittenes Wahlgesetz

Änderungen des Wahlgesetzes sind seit langem ein Stolperstein in dem zerrissenen Land. Zahlreiche Verhandlungen blieben erfolglos. Die in den Medien weit verbreitete Polemik konzentrierte sich auf die Vermutung, dass Schmidt eine Drei-Prozent-Klausel einführen will. Betroffen wären die Wahlen der Abgeordneten für das Haus der Völker der Parlamentarischen Versammlung der Föderation.

Damit wäre es in den zehn Kantonen der bosniakisch-kroatischen Föderation (nicht in der Republika Srpska!), in denen weniger als drei Prozent einer konstituierenden Nation leben, nicht mehr möglich, einen Delegierten dieser Nation zu wählen.

Zivil vs. ethnonational

Für die Einführung der Klausel macht sich vehement die kroatische HDZ stark. Sie behauptet, dass dies die Wahl von Bosniaken, die sich formell als Kroaten erklären, in Kantonen verhindern würde, in denen nur sehr wenige Kroaten leben.

Dies, so die Antwort der Bosniaken, würde die ethnische Säuberung während des Krieges zementieren und die Bosniaken als das zahlreichste Volk diskriminieren.

Hinter dem Wahlgesetz-Thema steht eine grundsätzliche Kontroverse. Es geht um zwei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Soll Bosnien eine zivile und multiethnische, oder eine ethnonationale Gesellschaft sein?

Sieg der Nationalisten

Die Teilung des Landes nach dem ethnisch-nationalen Prinzip begann schon mit den ersten demokratischen Wahlen 1990. Der Vielvölkerstaat, oft auch als "Mini-Jugoslawien" bezeichnet, besteht überwiegend aus den drei Ethnien der Bosniaken (Muslime), Serben (Orthodoxe) und Kroaten (Katholiken). In Bosnien leben aber auch sephardische Juden sowie Roma, deren Zahl allerdings abnimmt.

Proteste in Sarajewo gegen die Pläne über die WahlgesetzänderungenBild: Klix.ba

Der vierjährige Krieg endete de facto mit dem Sieg der Nationalisten. Das Friedensabkommen von Dayton bescherte dem Land eine Verfassung, die die ethnische Teilung praktisch weitgehend zementierte.

Die Verfassung ist einzigartig und im europäischen Maßstab unvergleichlich. Das Land besteht aus drei konstituierenden Nationen und zwei Staatsgebilden. Eines davon ist die Republika Srpska, in der überwiegend Serben leben, das andere ist die Föderation Bosnien und Herzegowina, in der Bosniaken und Kroaten gleichberechtigt sind, die Bosniaken aber die Mehrheit haben. In den zehn Kantonen der Föderation haben einige eine bosniakische, andere eine kroatische Mehrheit.

Verletzung der Menschenrechte

Trotz der faktischen ethnischen Teilung des Landes sind nach wie vor zivile, multiethnische Bewegungen aktiv, die gegen (weitere) Spaltungen entlang ethnischer Grenzen kämpfen.

In diesem Zusammenhang wird auch auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg hingewiesen. Die Verfassung von BiH sieht nämlich vor, dass nur Mitglieder der konstituierenden Nationen - Bosniaken, Serben und Kroaten - für das Staatspräsidium und die Parlamentarische Versammlung kandidieren dürfen. Juden und Roma sind damit ausgeschlossen.

Die Rolle des Amtes des Hohen Repräsentanten

Das Friedensabkommen von Dayton bescherte dem Land eine weitere Besonderheit - das Büro des Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina (OHR). Eine Institution, deren Mandat sich auf die Umsetzung der zivilen Aspekte des Friedensabkommens bezieht.

Der Hohe Repräsentant kann zum Beispiel Beamte entlassen, die gegen das Dayton-Abkommen verstoßen, und Gesetze beeinflussen oder annullieren. Das macht Bosnien zu einem Halb-Protektorat.

Zerrissen zwischen verschiedenen Interessen

Hinter dem OHR steht der Friedensimplementierungsrat (PIC), der aus einer Gruppe von 55 Ländern und internationalen Organisationen besteht. Der Hohe Repräsentant wird vom Lenkungsausschuss des PIC vorgeschlagen (dem unter anderem die USA, Kanada, Russland, Japan, Großbritannien, die EU und Deutschland angehören).

Deutliche Botschaft an den deutschen Hohen Repräsentanten Christian SchmidtBild: Klix.ba

Schon bei einem flüchtigen Blick auf die Mitgliedsländer des PIC wird deutlich, dass Bosnien und Herzegowina mit jeweils unterschiedlichen geopolitischen Interessen betrachtet wird.

In der aktuellen Kontroverse um das Wahlgesetz waren nach Informationen aus diplomatischen Kreisen unter anderem die USA und Großbritannien für die erwarteten Änderungen verantwortlich. Inoffiziellen Angaben zufolge soll Washington Druck auf Schmidt ausgeübt haben, eine Entscheidung analog zur Lobbyarbeit Kroatiens zu treffen.

Mit der Änderung des Wahlgesetzes wird man doch warten

Doch nach äußerst stürmischen Reaktionen gab Schmidt die in den Medien spekulierten Änderungen des Wahlgesetzes offenbar auf. Am Ende traf er eine Entscheidung technischer Natur im Zusammenhang mit einer besseren Überwachung der Wahl um Wahlbetrug zu vermeiden. Auf weiterreichende Wahlgesetzänderungen hat Schmidt vorerst verzichtet. 

Er will nämlich, wie er sagt, den Politikern in Bosnien noch eine Chance geben, selbst die notwendigen Veränderungen herbeizuführen, um nicht von seinen Sondervollmachten Gebrauch machen zu müssen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen