Bosnien: Imagine there is no nationalism
20. November 2020Bei den letzten Parlamentswahlen in Bosnien und Herzegowina 2018 wählten weit mehr als die Hälfte der Bosnier Parteien, die Interessen einer der drei großen Volksgruppen des Landes - Bosniaken, Kroaten und Serben - vertreten, also nationalistisch ausgerichtet sind. Gleichzeitig gibt es keine Partei, die für die herrschenden Nationalisten eine Konkurrenz darstellt. Dafür kann man nicht die Verfassung von Dayton verantwortlich machen, die zusammen mit dem gleichnamigen Friedensabkommen am 21. November 1995 auf der US-Luftwaffenbasis in Dayton/Ohio beschlossen wurde.
Man stelle sich vor, die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Bosniens würden Parteien wählen, für die ethnische Zugehörigkeit unbedeutend ist - sowie vergangenen Sonntag im Zentrum von Sarajevo bei den Lokalwahlen. Das Land wäre in einem völlig anderen Zustand, denn die Politik würde sich um Sachfragen kümmern statt um Identitätsdebatten.
Aber die Politik in Bosnien ist erstarrt, weil das Land von Nationalisten regiert wird, die alle staatlichen Strukturen gekapert haben. Unter ihnen gibt sogar Kräfte, die diesen Staat zerstören wollen und deshalb daran interessiert sind, dass es keine positive Entwicklung gibt. Bosnien leidet unter einer inneren Aggression völkischer Nationalisten.
Zuletzt hat etwa der rechtsradikale Nationalist Milorad Dodik, der zur Zeit im Staatspräsidium sitzt, vor der Corona-Pandemie im Februar angekündigt, dass die Vertreter seiner Partei die staatlichen Institutionen des Landes verlassen sollen und dass der der Landesteil "Republika Srpska", auf dem Weg sei, sich abzuspalten.
Dodik hat in den vergangenen zehn Jahren einige rote Linien des Dayton-Abkommens überschritten - und gleichzeitig immer behauptet, eben dieses Abkommen und die dazu gehörige Verfassung Bosniens zu verteidigen. Seine Abspaltungs-Reden sind das rhetorische Dauerfeuer, unter dem das vereinte Bosnien seit Jahren steht. Und sie wirken deshalb so vergiftend, weil sie von einer Ideologie getragen sind, die einen großen Teil des südosteuropäischen Raumes seit mehr als Hundert Jahren mit Gewalt und Leid überzogen hat.
Die Dominanz des Nationalen
Im Vordergrund der Politik der extremen Nationalisten auf dem Balkan steht ein Vorhaben aus dem 19. Jahrhundert: homogene Nationalstaaten zu schaffen, indem unliebsame Bevölkerungsteile ausgesiedelt, vertrieben oder vernichtet werden; oder aber, indem Teil bisheriger Staaten an andere Länder angeschlossen werden, um so eine ethnische Homogenisierung zu erreichen.
Auch an der Dominanz dieser Ideologie in der bosnischen Politik ist nicht die Dayton schuld. Im Gegenteil: Zu dem Friedensabkommen kam es erst aufgrund eines Krieges zwischen Nationalisten verschiedener Ethnien Bosniens. Trotzdem könnte man sich - in Anlehnung an John Lennons Lied "Imagine" - Gedanken darüber machen, wie Bosnien ohne diesen rassistischen Nationalismus aussehen könnte: "Imagine there is no nationalism."
Es ginge auch anders
Thorsten Gromes von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, ein Experte für die Dayton-Verfassung meint, diese habe einen Doppelcharakter: Sie spiegle die Spaltungen, die im letzten Kriegsjahr 1995 bestanden, schreibe diese aber auch fort. "Die Verfassung setzt an vielen Stellen Anreize, Interessen des eigenen konstitutiven Volkes oder der eigenen Entität zu artikulieren und ganz nach vorne zu schieben. Zugleich zwingt sie die Gewählten aber nicht dazu, konfrontativ ethno-nationalistische Positionen zu vertreten." Heißt: Wenn die bosnischen Politiker wollten, könnten sie auch anders.
Auch der Politikwissenschaftler Adis Merdzanović, der an School of Management and Law in Winterthur arbeitet, meint, dass Dayton-Bosnien funktionieren könnte. "Es erlaubt Entscheide, die von einer breiten Mehrheit getragen werden und unter Beteiligung aller zustande kommen. Zeitgleich werden Entscheide verhindert, die gezielt gegen eine Gruppierung gerichtet sind." Aber. "Auch das beste Verfassungssystem funktioniert nicht, wenn die Beteiligen nicht wollen, dass es funktioniert."
Problemlösung von außen
In der Politiktheorie nehme man an, dass die Bevölkerung jene Parteien bei Wahlen abstrafen würde, durch die die Entwicklung des Landes stagniert und jene belohnt würden, die Kompromisse eingehen, erklärt der Politologe. "In der Praxis war es so, dass in den ersten zehn Jahren nach Dayton niemals dieser Punkt erreicht wurde und die entsprechenden Mechanismen greifen konnten. Denn der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft," - der laut Dayton-Abkommen die zivile Umsetzung des Friedens überwachen sollte - "griff ein - und löste die Probleme. Deshalb entstand in der Bevölkerung kein Wunsch nach Kompromiss-orientierteren Politikern."
Diese Entwichlung hat für Merdzanović den Aufstieg politischer Eliten ermöglich, die sich nicht nur von Regierungstätigkeit abwandten. Es gelang ihnen auch, durch das in der Dayton-Verfassung festgelegte System der ethnisch-proportionalen Vertretung in Politik und Verwaltung Bosniens ein klientelistisches System aufbauen. Alle wichtigen Funktionen im Land wurden mit den eigenen Leuten besetzt. Und damit wurden positive Anreize zur Veränderung komplett ausgehebelt.
Die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger
Als sich der Hohe Repräsentant im Jahr 2006 dann von seiner aktiven Rolle zurückzog, sei das System schon so festgefahren gewesen, dass die eigentlich vorgesehenen Mechanismen - also das Bestrafen von Kompromissverweigerung - nicht mehr funktionieren konnten, meint der Politologe.
Auch die Bürgerinnen und Bürger Bosniens sind für Merdzanović in dieser Hinsicht nicht aus der Verantwortung zu nehmen: denn sie sind es, die immer wieder jene Parteien wählen, die den Status quo festigen. Veränderung wird von ihnen - von ein paar bürgerlich-progressiven Kräften abgesehen - nicht einmal diskutiert.
Dayton ist nicht schuld
"Imagine there is no clientilism" könnte man an dieser Stelle mit John Lennon weiterdenken. Man stelle sich vor, dass bosnische Bürger nicht mehr im Gegenzug zur Loyalität an der Wahlurne von politischen Parteien Gefälligkeiten, Jobs und Dienstleistungen bekommen würden, sondern dass Wahlprogramme, ja vielleicht sogar Reformprogramme die bosnische Politik dominierten. Dass Bürger und Politiker sich damit auseinandersetzen würden, wie die Verwaltung effizienter gemacht, die Luftverschmutzung verringert oder wie man den Wandertourismus fördern könnte. Niemand würde die Verfassung von Dayton dafür verantwortlich machen.
Interessanterweise konfrontiert kaum jemand die Bürger Bosnien und Herzegowinas mit dieser unangenehmen Wahrheit: dass auch ihr Wahlverhalten zur Agonie beiträgt. Es ist, als würden alle gerne ihren Dornröschenschlaf weiter schlafen und eher auf den Prinz warten, als sich selbst zu helfen. Und das, obwohl der Prinz nie kommen wird.
Adelheid Wölfl, in Österreich als Sozialarbeiterin und Journalistin ausgebildet, arbeitete ab 1999 für das österreichische Magazin "profil". Nach einem Studienabschluss in Maastricht 2003 wechselte sie zur Außenpolitik der österreichischen Tageszeitung "Der Standard", dessen Korrespondentin für Südosteuropa mit Sitz in Sarajevo sie seit 2012 ist.