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PolitikEuropa

Bosnien-Wahlen: Keine Besserung in Sicht

1. Oktober 2022

Am Sonntag wurde in dem Westbalkanstaat Bosnien und Herzegowina gewählt. Trotz Klientelismus, Korruption und Armut müssen die herrschenden Nationalisten keine Angst vor einer Niederlage haben.

Bosnien-Herzegowina Regierungsgebäude in Sarajevo
Bosnische Fahnen vor dem Gebäude der gesamtbosnischen Regierung in der Hauptstadt Sarajevo Bild: DW/Mehmed Smajic

Die Lage ist ernst: "In Bosnien und Herzegowina droht kein Krieg, aber die politische Krise geht sehr tief", betonte Christian Schmidt im Frühjahr 2022 bei einer Pressekonferenz in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Bereits zuvor hatte der frühere deutsche Landwirtschaftsminister und heutige Hohe Repräsentant (HR) der internationalen Gemeinschaft in dem kleinen Westbalkanland in einem Bericht an die UN vor "der größten existenziellen Bedrohung" für Bosnien seit Ende des Krieges 1995 gewarnt.

Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant (HR) der internationalen Gemeinschaft in BosnienBild: Elvis Barukcic/AFP/Getty Images

Verantwortlich für diese Bedrohung sind die nationalistischen Parteien der drei laut Verfassung "konstitutiven" Völker des Vielvölkerstaats - die "Partei der Demokratischen Aktion" (SDA) der Bosniaken, der "Bund Unabhängiger Sozialdemokraten" (SNSD) der bosnischen Serben sowie die "Kroatische Demokratische Gemeinschaft" (HDZ) der Kroaten im Land. Sie haben Bosnien in den vergangenen 27 Jahren politisch tief gespalten und unter sich aufgeteilt.

Das Erbe von Dayton

Vor diesem Hintergrund waren die bosnischen Wählerinnen und Wähler am 2. Oktober 2022 aufgerufen, über verschiedene politische Ebenen im hochkomplizierten Aufbau ihres Staates abzustimmen. Seine politisch-administrative Struktur verdankt Bosnien dem Friedensabkommen, das Ende 1995 auf dem US-Luftstützpunkt in Dayton/Ohio ausgehandelt wurde. "Dayton" beendet einerseits den Bosnien-Krieg, in dem seit 1992 rund 120.000 Menschen getötet worden waren - schuf andererseits aber einen Staat, in dem das nationale Prinzip herrscht.

Das beginnt bei den "Entitäten" genannten zwei Landesteilen: In der "Republika Srpska" (RS) leben überwiegend bosnische Serben, in den zehn Kantonen der "Föderation Bosnien und Herzegowina" (FBiH) dagegen vor allem Bosniaken und bosnische Kroaten. Dabei werden die meisten mehrheitlich bosniakischen Gegenden von der SDA, die meisten mehrheitlich kroatischen von der HDZ dominiert.

Beide Entitäten haben eigene Parlamente und Regierungen. Heute waren die Bürger aufgerufen, den RS-Präsidenten und das RS-Parlament neu zu wählen. Hinzu kommt das gesamtbosnische Parlament, die drei Mitglieder des "Staatspräsidiums" - des kollektiven Staatsoberhaupts Bosniens-, sowie die Parlamente der FBiH-Entität und der Kantone.

Ein fataler Konstruktionsfehler

In Dayton wurde auch das "Büro des Hohen Repräsentanten" (Office of the High Representative, OHR) geschaffen. Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen, den so genannten "Bonn Powers" (Bonner Vollmachten), soll dessen Leiter, der HR, die Einhaltung der Bestimmungen des Friedensvertrags überwachen und, wenn er es für richtig hält, sogar lenken. So kann der HR Gesetze umschreiben, gewählte Politiker absetzen oder Beamte entlassen.

An der Wand des Parlaments der bosnischen "Entität" Republika Srpska prangt die serbische Fahne - nicht die Bosniens Bild: Dragan Maksimovic/DW

Abseits dessen basiert die politische Ordnung Nachkriegs-Bosniens ausschließlich auf dem Ethno-Prinzip. Das geht so weit, dass nur Angehörige der konstitutiven Völker das volle aktive und passive Wahlrecht auf allen staatlichen Ebenen haben. Angehörige der zahlreichen Minderheiten in Bosnien - Roma, Juden oder auch alle Bürgerinnen und Bürger, die sich ethnisch nicht einordnen wollen - können also nicht für das Staatspräsidium kandidieren.

Nepotismus und Korruption

Für die nationalistischen Parteien ist der ethnischen Schlüssel Hauptinstrument der Machteroberung und des Machterhalts. Bei der Besetzung fast aller Stellen in der Verwaltung, im Staatsapparat sowie in den vielen staatlichen oder staatlich kontrollierten Unternehmen des Landes wird nicht nur auf die ethnische, sondern vor allem auch auf die parteipolitische Zugehörigkeit geachtet. Das sind ideale Voraussetzungen für Nepotismus und Korruption, zudem wird politischer Korpsgeist gefördert.

In Bosnien geht nichts ohne nationale Symbole: eine serbische, eine bosnische und eine kroatische Tischfahne bei einer Konferenz in SarajevoBild: Samir Huseinovic

Eine weitere Folge ist die faktische Unregierbarkeit des Landes. Vor allem darauf bedacht den Einfluss in ihrer Ethnie zu festigen, zeigen die nationalistischen Parteien wenig Interesse an funktionierenden gemeinsamen oder gar zentralen Institutionen. So ist das bosnische Verfassungsgericht seit Monaten nicht vollständig besetzt, die Regierung der Föderation arbeitet seit Jahren nur provisorisch, wichtige Gesetze können nicht verabschiedet werden, weil die zuständigen Parlamente immer wieder blockiert werden.

Allianz der Nationalisten

Zudem droht der SNSD-Chef Milorad Dodik, der auch Vertreter des bosnisch-serbischen konstitutiven Volks im Gesamtstaatspräsidium ist, immer wieder mit einer Abspaltung der Republika Srpska. Damit hält Dodik sowohl die bosnische Öffentlichkeit als auch die Vertreter der internationalen Gemeinschaft im Land in einer Art permanenten Ausnahmezustand.

Dragan Covic und Milorad Dodik, die Chefs der nationalistischen Parteien der bosnischen Kroaten und SerbenBild: Klix

Unterstützt wird Dodik von der HDZ. Die kroatischen Nationalisten rechtfertigen ihre fehlende Zusammenarbeit in den gesamtstaatlichen Institutionen mit der Unzufriedenheit mit dem Wahlgesetz, das Kroaten in Bosnien gegenüber Bosniaken angeblich stark benachteilige. So sei der amtierende Vertreter der Kroaten im Staatspräsidium, Zeljko Komsic, vor allem von bosniakischen Bürgerinnen und Bürgern in das Gremium gewählt worden, moniert der HDZ-Vorsitzender Dragan Covic. Der Sozialdemokrat und Nicht-Nationalist sei somit nicht Vertreter der bosnischen Kroaten.

Protest gegen Christian Schmidt vor dem Sitz des Hohen Repräsentanten in Sarajevo im August 2022Bild: Klix.ba

Und die SDA? Die Bosniaken-Partei, die sich nach außen als Garant eines gemeinsamen bosnischen Staates gibt, hat erst vor kurzem wieder gezeigt, dass auch sie die nationalistische Klaviatur zu spielen weiß: Unzufrieden mit der Ankündigung des Hohen Repräsentanten, das Wahlgesetz vermeintlich zugunsten der Kroaten ändern zu wollen, organisierte die SDA Massenproteste vor dem OHR-Sitz in Sarajevo. Parteivorsitzender Bakir Izetbegovic sprach von der "Möglichkeit bewaffneten Widerstandes". Daraufhin ließ Christian Schmidt sein Vorhaben fallen und verabschiedete nur einige kleinere technische Änderungen.

Helfer von außen

Die Nationalisten Bosniens haben auch Unterstützer im Ausland. So zeigt sich Dodik oft mit Serbiens Präsidenten Aleksandar Vucic und demonstriert ganz offen, dass ihm die serbische Hauptstadt Belgrad wichtiger ist als das bosnische Sarajevo. Covic wird bei seinen Forderungen von führenden Politikern in der kroatischen Hauptstadt Zagreb unterstützt. Izetbegovic wiederum protzt geradezu mit seiner ideologisch-politischen, aber auch persönlichen Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Der Chef der bosniakischen Partei SDA Bakir Izetbegovic (l.) mit dem türkischen Präsidenten Erdogan 2015 in SarajevoBild: picture-alliance/dpa/F. Demir

Der jahrelange, durch die Blockadepolitik der nationalistischen Parteien und ihrer Mentoren in den Nachbarländern hervorgerufene politische Stillstand hat Bosnien ruiniert: Der Korruptionsindex von Transparency International listet das Land 2021 auf Platz 110 von 180. Die Wirtschaft ist eine der schwächsten Europas, Armut ist weit verbreitet. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 16 Prozent. Immer mehr Menschen verlassen Bosnien. Seit 2013 gingen rund eine halbe Million, allein 2021 waren es etwa 170.000. 1991 betrug die Einwohnerzahl knapp 4,4 Millionen, 2020 nur noch 3,3 Millionen.

Bosnien: "Ich will die politische Situation im Land ändern"

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Die meisten der Auswanderer gingen in Länder der Europäischen Union. Ein EU-Beitritt Bosniens ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert auch das proklamierte Ziel aller politischen Kräfte im Land. Doch selbst vom Kandidatenstatus ist Bosnien, das 2016 die Mitgliedschaftsantrag beantragt hat, nach wie vor weit entfernt. Brüssel hat eine Checkliste mit 14 Punkte aufgestellt, nach deren Erfüllung der Weg zu Beitrittsverhandlungen wenigstens formell offen wäre - aber bisher wurde kein einziger erfüllt.

Eine Besserung oder gar ein Ende durch Wahlen ist in Bosnien unwahrscheinlich. Angesichts der Lage wirkt die eingangs zitierte Einschätzung des Hohen Repräsentanten beruhigend, dass dem Westbalkanland immerhin kein Krieg droht.