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Politik

Melnyk, Scholz und die "beleidigte Leberwurst"

3. Mai 2022

Olaf Scholz fährt nicht nach Kiew, weil die Ukraine den Bundespräsidenten ausgeladen hat. Der ukrainische Botschafter nennt den Kanzler daraufhin eine "beleidigte Leberwurst". Das sorgt für Ärger.

Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk nimmt kein Blatt vor den MundBild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Wie weit darf ein Botschafter gehen und was muss sich ein Bundeskanzler gefallen lassen? Diese Frage beschäftigt die Republik. Auslöser ist eine Äußerung des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk nach einem TV-Interview von Bundeskanzler Olaf Scholz. Darin wurde der SPD-Politiker gefragt, ob und wann er nach Kiew fahren würde. Antwort Scholz: Vorerst nicht. Die Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die Ukraine stehe seiner Reise im Weg.

Steinmeier wollte Mitte April zusammen mit den Staatschefs von Polen, Lettland, Estland und Litauen nach Kiew fahren, erhielt aber kurzfristig eine Absage. "Das geht so nicht", meinte Scholz. "Es kann nicht funktionieren, dass man von einem Land, das so viel militärische Hilfe, so viel finanzielle Hilfe leistet, das gebraucht wird, wenn es um die Sicherheitsgarantien geht, die für die Zeit der Ukraine in der Zukunft wichtig sind, dass man dann sagt, der Präsident kann aber nicht kommen."

Schwere Waffen zügig liefern

Melnyk sagte daraufhin gegenüber der Deutschen Presseagentur: "Eine beleidigte Leberwurst zu spielen klingt nicht sehr staatsmännisch. Es geht um den brutalsten Vernichtungskrieg seit dem Nazi-Überfall auf die Ukraine, es ist kein Kindergarten." Als beleidigte Leberwurst wird im Deutschen jemand bezeichnet, der aus (vermeintlich) nichtigem Anlass schmollt.

Die Hafenstadt Mariupol ist fast vollständig zerstörtBild: Alexei Alexandrov/AP/picture alliance

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj würde sich weiterhin freuen, Scholz in Kiew empfangen zu dürfen, aber: "Worauf sich die Ukraine viel mehr als auf alle symbolischen Besuche freuen würde, ist, dass die Ampel-Regierung den Antrag des Bundestages über die Lieferung von schweren Waffen zügig umsetzen wird und die bisherigen Zusagen erfüllt."

Klausur in Meseberg

Olaf Scholz ließ sich am Dienstag nicht anmerken, ob und wie sehr ihn die Reaktion des Botschafters trifft. Der Kanzler und seine Minister haben sich für zwei Tage zu einer Klausurtagung auf Schloss Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung in der Nähe von Berlin, zurückgezogen, um über "die wichtigen Fragen zu sprechen, die uns alle umtreiben", wie Scholz zum Auftakt sagte.

Im Mittelpunkt wird der Krieg in der Ukraine stehen, seine Folgen für die Sicherheit, aber auch für die Wirtschaft. Die Regierungschefinnen Schwedens und Finnlands, Magdalena Andersson und Sanna Marin, sind als Gäste dabei. Beide Länder erwägen im Zuge der Krise einen Nato-Beitritt. Sie seien enge Verbündete und enge Partner in der Europäischen Union, sagte Scholz.

Melnyk soll sich entschuldigen

Über die verbale Attacke des ukrainischen Botschafters verlor der Kanzler kein Wort. Andere kritisieren Melnyk hingegen teils scharf. "Olaf Scholz ist keine Wurst, er ist der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Dies gilt es zu respektieren", sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki. Der Fraktionsvorsitzende der oppositionellen AfD im Bundestag, Tino Chrupalla, fordert Konsequenzen. "Solche Provokationen und Beleidigungen von Verfassungsorganen sind nicht tatenlos hinzunehmen. Die Bundesregierung muss sofort Botschafter Melnyk einbestellen", sagte er. Wenn sich Melnyk uneinsichtig zeige, müsse die Regierung darauf bestehen, dass er umgehend abberufen werde.

Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, verteidigte den Kanzler, versucht aber auch, die Wogen zu glätten. Die Ukraine habe den Bundespräsidenten ausgeladen und könne nun nicht erwarten, dass der Kanzler nach Kiew reise. "Vielleicht, lieber Herr Melnyk, entschuldigt man sich einfach mal beim Präsidenten und lädt dann den Kanzler höflich ein, zu kommen."

Russisches "Spinnennetz"

Es ist nicht die erste Attacke des ukrainischen Botschafters gegen die Bundesregierung und insbesondere gegen die SPD. Anfang April attestierte Melnyk führenden SPD-Politikern, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten regierten, eine "höchst bedenkliche Nähe zu Russland" und hob den Bundespräsidenten dabei besonders hervor.

Enge Vertraute: Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (li.) und Frank-Walter Steinmeier - hier 2013 in der SPD-FraktionBild: Soeren Stache/dpa/picture alliance

Steinmeier war ab 1998 einer der engsten Vertrauten von SPD-Kanzler Gerhard Schröder, sein Kanzleramtsminister und ab 2005 Bundesaußenminister. Als solcher habe der Sozialdemokrat ein "Spinnennetz der Kontakte mit Russland" geknüpft, sagte Melnyk im Berliner "Tagesspiegel". In dieses Netz seien auch viele Leute verwickelt, die in der jetzigen Bundesregierung das Sagen hätten. Kurz danach schrieb Melnyk auf Twitter, die "Putin-freundliche" Politik der "SPD-Kumpane" habe "den barbarischen Vernichtungskrieg gegen den Staat, Nation, Kultur, gegen Frauen und Kinder erst herbeigeführt".

Sozialdemokraten unter Druck

Für die SPD sind die fortwährenden Angriffe ein Alptraum. Mitte April hatte sich die SPD-Vorsitzende Saskia Esken mit Melnyk getroffen, um die Lage zu beruhigen. Beide Seiten vereinbarten anschließend Stillschweigen und ließen nur verlauten, das Gespräch sei gut verlaufen. Dass Melnyk den Kanzler jetzt als "beleidigte Leberwurst" bezeichnet, zeigt der SPD, dass der Botschafter keineswegs leisertreten will.

Für die SPD verstärkt das den Druck, unter dem sie wegen ihrer zögerlichen Haltung zu Waffenlieferungen in die Ukraine ohnehin schon länger steht. Jahrzehntelang galt in Deutschland der Grundsatz, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern. In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es viele überzeugte Pazifisten, die sich mit dem Kurswechsel sehr schwertun. Für Scholz heißt das, er muss Überzeugungsarbeit auch in den eigenen Reihen leisten.

Politik ist kein Fußballspiel

Doch der Kanzler ist kein Mensch, dem es leichtfällt, andere einzubinden und mitzunehmen. Dafür ist er vom Typ her viel zu distanziert und kühl. Emotionen zu zeigen, das war ihm schon immer fremd. Zudem gehören für ihn politische Entscheidungsprozesse nicht in die Öffentlichkeit. Als er in dem TV-Interview am Montag gefragt wurde, wie die Diskussion in der EU über ein russisches Öl-Embargo läuft, wich er zunächst aus und begründete seine ausbleibende Antwort schließlich auf Nachfrage: " … weil ich nicht finde, dass es einen live-Ticker aus europäischen Beratungen geben sollte. Das ist kein Fußballspiel."

Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Schloss Meseberg in BrandenburgBild: MICHELE TANTUSSI/REUTERS

In Meinungsumfragen hat Olaf Scholz in den letzten Wochen erheblich an Zustimmung eingebüßt. Im Gegensatz zum grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der bei den Bundesbürgern immer besser ankommt. Vom Typ her ist er so etwas wie ein Anti-Scholz. In den sozialen Netzwerken ist Habeck ständig präsent und gibt dort in Handy-Videos hemdsärmelig Einblick in seinen politischen Alltag.

Authentische Kommunikation

Dabei macht der Minister keinen Hehl daraus, wie schwer ihm manche Entscheidungen fallen. Er benennt Widersprüche, wägt seufzend ab, erklärt sein Denken, Zögern und Handeln. Spricht frei und so, dass es alle verstehen, und gibt den Zuschauern das Gefühl der politischen Teilhabe.

Kürzlich erklärte Habeck, was ihn dazu gebracht hat, seine Meinung zu einem Importstopp für russisches Gas und Öl zu ändern. Noch vor wenigen Wochen habe er gedacht: "Oje", ein Embargo werde Deutschland kaum aushalten. Heute aber halte er es für "handhabbar". Habeck sagt zwar nicht, dass es klappen wird, doch das Video vermittelt das Gefühl, Deutschland werde es schaffen.

Mehr Habeck wagen?!

Der grüne Spitzenpolitiker wirkt authentisch, seine Kommunikation ist modern. Der Sozialdemokrat Scholz hingegen tritt so auf, wie er es in den vergangenen Jahrzehnten immer gemacht hat. Er entscheidet und teilt nur das Notwendigste mit. In extremen Krisenzeiten reicht das aber offensichtlich nicht aus.

Die Berater des Kanzlers versuchen schon lange, Scholz zumindest in Gestik und Mimik etwas lebhafter erscheinen zu lassen. In dem TV-Interview am Montagabend war das auffällig. Scholz' Hände und Arme waren ständig in Bewegung, ab und zu ballte er auch die Faust. Auf einer Kundgebung zum Tag der Arbeit am 1. Mai trat der Kanzler ungewohnt emotional auf.

Kommunikativ von Robert Habeck zu lernen, das bieten inzwischen übrigens einige Trainings- und Coaching-Unternehmen an, die sich an Manager und Führungskräfte wenden. "Reden wie Robert Habeck: Rhetorik und Körpersprache souverän eingesetzt", ist eine fünfseitige Abhandlung überschrieben, mit der ein Trainer für sich wirbt. Dazu der Hinweis: "Eine gute und zum Text passende Körpersprache ist in einem Coaching / Seminar / online Training gut zu vermitteln. Schauen Sie sich unser Angebot an."

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