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"Ja, Kirchentage sind links!"

Volker Wagener5. Juni 2015

Festivaleuphorie beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Doch das rituelle Zusammenkommen der deutschen Protestanten spiegelt nicht die Realität des Gemeindealltags. Fragen an Pfarrer Karsten Brücker.

Menschen vor Kirchentags-Hinweisschild in Stuttgart (Foto: picture-alliance/dpa/W. Kastl)
Bild: picture-alliance/dpa/W. Kastl

DW: Herr Brücker, erklären Sie uns doch bitte: Wozu sind Kirchentage nutze?

Karsten Brücker: Zum einen sind sie natürlich sehr öffentlichkeitswirksam. Kirchentage sind immer eine gute Möglichkeit für die Kirche, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Kirche kann zeigen, wir sind eine junge Kirche. Und die Kirche hat die Möglichkeit, mit dem Evangelium breite Massen über die Medien zu erreichen.

Welche Impulse gehen denn von Kirchentagen aus? Gibt es danach mehr Kircheneintritte?

Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich kann aber sagen, dass auch aus unserer Kirchengemeinde, hier in Wipperfürth in Nordrhein-Westfalen, immer Jugendliche und auch Erwachsene zum Kirchentag fahren. Und die bringen schon neue Ideen, neue Impulse mit. Und die bringen sie auch ins Gemeindeleben ein.

In Stuttgart kommen rund 100.000 evangelische Christen zusammen und diskutieren unter anderem über einen Schuldenerlass für Griechenland, die Homo-Ehe, die Flüchtlingsfrage und über eine gerechtere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Was hat das mit Gott, dem Glauben zu tun?

An der Stelle sind wir an einem entscheidenden Punkt. Ich denke, wichtig und auch sehr deutlich muss werden, dass Kirche immer auf der Basis des Evangeliums spricht. Wenn wir etwa das Gleichnis vom Arbeiter im Weinberg nehmen, wo jeder das erhält, was er zum Leben braucht: da wird klar, was Kirche zum Thema Gerechtigkeit zu sagen hat. Schwierig wird es, wenn die Kirche zu einer "Wir-auch"-Kirche wird.

Der Theologe Matthias Dobrinski hat das ja mal so formuliert: "Was einem an der Haltung der Kirche auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos japsend läuft sie hinter der Zeit her." Sagt die Welt: Jugendbewegung, sagt die Kirche: Wir auch. Sagt die Welt: Sozialismus, sagt die Kirche: Wir auch.

Also, nach meiner Auffassung ist eine "Wir auch"-Kirche zu vermeiden. Die Basis ist das Evangelium, die Botschaft Jesu Christi und auf dieser Grundlage ist es die Funktion der Kirche, zu wesentlichen politischen Fragen der Gerechtigkeit, der Menschenwürde, der Biomedizin-Ethik Stellung zu nehmen. Aber nach meiner Auffassung muss klar sein, dass Kirche das aufgrund des Evangeliums tut und nicht, weil es gerade aktuell ist oder weil es dem Programm irgendeiner Partei entspricht.

Christlicher Massenauflauf in Zeiten von Kirchenaustritten: der evangelische Kirchentag in StuttgartBild: picture-alliance/dpa/W. Kastl

Herr Brücker, was halten Sie von der Aussage "Kirchentage sind links!"

Das hängt den Kirchentagen nach, das ist so. Das hängt den Kirchen oder den Kirchentagen auch deshalb nach, weil sie in dem Kontext groß geworden sind in den 60er und 70er Jahren. Kirche ist auf der Basis des Evangeliums immer politisch, aber sollte sich davor hüten, parteipolitisch zu sein.

Stattdessen sollte sie die Botschaft Jesu Christi in unsere Zeit mahnend hinsagen. Die Frage muss immer lauten: "Was bedeutet das für unsere Zeit?" Und so sollte es sein, auch wenn es vielleicht manchmal medial uninteressanter ist. Sätze wie "nichts ist gut in Afghanistan" sind natürlich plakativ und kommen besser medial rüber.

Sie sind Schulpfarrer an einem Gymnasium. Welche Fragen zu Gott und Kirche interessieren Jugendliche heute überhaupt noch?

Oh, da gibt es eine ganze Zahl von Fragen. Also sehr aktuell sind im Moment bio- und medizinethische Fragen. Also Fragen der Präimplantations-Diagnostik, der Abtreibung. Fragen des Klonens. Was dürfen wir Menschen? Auch vom christlichen Menschenbild her gedacht. Was bin ich als Christ und wie darf ich handeln? Es interessiert der Dialog der Religionen, den anderen kennenzulernen. Ich fahre demnächst mit einer sechsten Klasse in die Synagoge nach Köln, auch da herrscht großes Interesse, auch bei jungen Menschen. Richtig ist aber auch: Die Individialisierung der jungen Menschen ist weit fortgeschritten. Wir müssen heute in der Schule, gerade in den jungen Klassen, alphabetisieren, also klarmachen, was ist eigentlich christlicher Glaube?

Bunte Kirchentage mit 100.000 Besuchern, live im Fernsehen übertragen, suggerieren ein pulsierendes Christenleben. Danach bleiben die wenigen Aktiven in ihren Gemeinden wieder allein. Ärgert Sie das?

Also wenn ich mich darüber ärgere, dann kann ich gleich die Hände in den Schoß legen und sagen: "Ich mache nicht weiter". Kirche ist heute eine Minderheit, das ist ganz klar so. Aber diese Minderheitensituation bietet ja vielleicht auch eine neue Chance, authentisch zu sein. Und wirklich die Botschaft Jesu Christi nicht für einen Apfel und ein Ei zu verkaufen.

Damit sind wir wieder bei dem ersten Punkt, nicht zu einer "Wir auch"-Kirche zu werden, die dem Zeitgeist hinterherrennt. Die Qualität des Pfarrers entscheidet sich eben nicht daran, ob er Fußball spielt oder mit einem Gleitschirm von Bergen springt, sondern Kirche hat eben die anspruchsvolle Aufgabe, die Botschaft Jesu Christi in diese Zeit hineinzusagen und das kann und soll und muss manchmal auch unangenehm sein.

Karsten Brücker ist Schulpfarrer am Engelbert-von-Berg-Gymnasium in Wipperführt in Nordrhein-Westfalen.

Das Interview führte Volker Wagener.

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