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Politik

Bundestag: Zeit für eine neue Generation?

Leonie von Hammerstein
27. Juni 2020

Zu alt, zu weiß, zu männlich. Rufe nach einem Bundestag, der Deutschlands Gesellschaft besser abbildet, sind nicht neu, aber sie werden immer lauter. Eine neue überparteiliche Bewegung setzt genau da an.

Deutschland Bundestag
Bild: Reuters/H. Hanschke

Seit 23 Jahren sehe sie in ihrem Heimatort die gleichen weißen älter werdenden männlichen Gesichter auf den Wahlplakaten, erzählt Nina Zündorf. "Ich frage Dich, wen repräsentieren sie? Da muss doch mehr gehen!” 709 Abgeordnete sitzen im Deutschen Bundestag. Im Durchschnitt sind sie männlicher, älter, weißer, akademischer, heterosexueller und westdeutscher als die gesamtdeutsche Bevölkerung.

US-Erfolgsgeschichte als Beispiel

Die Stimmen, die deswegen eine Veränderung fordern, sind nicht neu. Sie werden aber drängender. Eine neu gegründete Bewegung will ihnen jetzt politisches Gewicht geben. Das Ziel: Den Bundestag repräsentativer und progressiver machen. Brand New Bundestag (BNB) heißt die Organisation, bei der sich die Rot-Kreuz-Mitarbeiterin Zündorf privat engagiert. Ihr Vorbild ist eine Erfolgsgeschichte aus den USA: Alexandria Ocasio-Cortez zog mit 28 Jahren als jüngste Abgeordnete und Quereinsteigerin in den US-Kongress ein.

Mit Charisma und Engagement: Die junge US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez bei einer RedeBild: Imago Images/ZUMA Press/J. Mennenga

Die Kellnerin und Aktivistin aus der Bronx mit lateinamerikanischen Wurzeln macht Politik, die viral geht. Mit Charisma - und einer agilen Bewegung hinter sich. Das will BNB auch. Indem sie Kandidatinnen und Kandidaten beim Wahlkampf unterstützt. Solche, die sich politisch in der Zivilgesellschaft und in sozialen Bewegungen engagieren. Menschen, die eine neue Machart der Politik verkörpern.

Vielfalt als Grundbedingung

"Diversität ist kein Selbstzweck”, sagt Georg Blokus, er leitet das Graswurzel-Organizing von Brand New Bundestag. "Ich brauche sie nicht, weil ich sie gern auf Fotos abgebildet hätte. Sondern, weil diese Menschen im Kampf gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen. Erfahrungen gemacht haben. Und vor allem: Weil diese Menschen wissen, wie man diese Probleme löst und wie eine Gesellschaft der Vielen aussieht.”

Ausgelöst durch die Debatte um strukturellen Rassismus nach dem gewaltsamen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd hat die Frage nach mehr Diversität in Deutschland einen Aktualitätsschub bekommen. Der einzige schwarze Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby (SPD) wird mit Anfragen überschwemmt, sich zu Rassismus zu äußern. Dabei sei er doch "eigentlich Bildungspolitiker", sagt er der Deutschen Welle. Aminata Touré (Grüne), eine der wenigen schwarzen Frauen in der deutschen Politik und Vizechefin des Landtags von Schleswig-Holstein, fordert im DW Interview: "Ich glaube fest daran, dass mehr People of Colour in die Politik gehen müssen.”

Diversität sei vor allem deswegen wichtig, weil sie immer mehr eingefordert werde. "Gruppen, die sich vor 15 bis 20 Jahren mit weniger Sichtbarkeit abgefunden haben, nehmen das nicht mehr hin”, erklärt Thomas Saalfeld, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bamberg. Die Politik reagiert auf den Druck. So wurde ein vieldiskutiertes Anti-Diskriminierungsgesetz für Berlin verabschiedet, das staatlichen Institutionen unter Androhung von Schadenersatzzahlungen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder der Herkunft verbietet. Aber: "Wir können uns gewiss sein, dass die Vielfalt der Probleme so groß ist, dass wir uns kein kleines Reförmchen leisten können" betont Blokus. Angesichts von Rassismus, Klimawandel und sozialer Ungleichheit gehe es "vielleicht mehr denn je ums Ganze.”

Auf der Kandidaten-Suche

Zur Aufgabe der ehrenamtlichen Polit-Aktivisten Nina Zündorf gehört es, hoffnungsvolle Kandidatinnen und Kandidaten zu finden, die sich der Tragweite dieser Probleme bewusst sind. Sie telefoniert Organisationen ab, die sich politisch und sozial engagieren oder Nachbarschaftsinitiativen, die in der Lokalzeitung erscheinen. Es geht ihr darum, mit Menschen zu sprechen. Sie zu fragen, wen sie in ihrem Umfeld, ihrem Dorf, ihrem Verein für fähig halten, frischen Wind in den Bundestag zu bringen. Und diese Personen dann für die Ideen von BNB zu gewinnen.

In einem langwierigen Auswahlprozess werden die Kandidatinnen und Kandidaten von einer zehnköpfigen BNB-Auswahlkommission bestimmt. Die Jury setzt sich so divers zusammen wie die Bewegung auch ihre Kandidaten zusammenstellen möchte. Zur Jury gehören beispielsweise ein Inklusions-Aktivist, eine Autorin sowie ein Fridays for Future-Aktivist.

Überzeugungsarbeit für Neueinsteiger

Die ausgewählten Kandidatinnen und Kandidaten bekommen strategische Beratung, Trainings und Wahlkampf-Unterstützung. BNB hat einen Forderungskatalog entwickelt, mit dem sie sich identifizieren müssen. Im Fokus stehen darin Lösungsvorschläge für die Klimakrise, soziale Gerechtigkeit, nachhaltige Wirtschaft sowie ein solidarisches Europa.

BNB versucht die drei Parteien des linken Spektrums - die SPD, die Grünen und die Linke - davon zu überzeugen, diese politischen Talente in den Wahlkreisen aufzustellen. Meist gehören sie schon Parteien an, gelten aber als zu jung oder unerfahren für ein mögliches Bundestagsmandat. Manchmal müssen sie erst in eine Partei eintreten oder sie gehen als parteilose Kandidatinnen und Kandidaten ins Wahlrennen.

Weiß und männlich dominiert: Wie man in der Abstimmung sieht, sind Frauen (in der Mitte Angela Merkel) oder junge Politiker eher selten im BundestagBild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

"Dafür gibt es erstaunlich viel Offenheit”, erzählt Zündorf. Viele Parteien hätten festgestellt, dass es bei ihnen in letzter Zeit nicht so gut laufe und die Mitglieder immer älter würden. Allein aufgrund der Nachwuchssorgen hätten sie es bitter nötig, sich etwas Neues zu überlegen. Leicht gemacht würde es einem trotzdem nicht. "Heißt es deshalb, dass es einfach wird und wir durchsegeln - nein. Aber man kommt ins Gespräch”, sagt Zündorf.

Recht auf politische Hoffnung

Noch sucht die Bewegung Unterstützung, auch finanzieller Art. Sie sind in Gesprächen mit unterschiedlichen Stiftungen. Diese sollen aber maximal 10 Prozent ihres Jahresbudgets finanzieren, damit die Unabhängigkeit gewahrt bleibt. Hauptsächlich will BNB die mindestens vier Vollzeitstellen bis Ende des Jahres über Mitgliedsbeiträge und Crowdfunding finanzieren.

Noch steht die Graswurzel-Bewegung am Anfang. Bald aber will sie in die Zivilgesellschaft reichen und den gesellschaftlich progressiven Wandel vorantreiben. Für den BNB-Organisator Georg Blokus ist die Zeit für eine neue charismatische Politiker-Generation gekommen. Für Menschen, die neue Lebensrealitäten ins Parlament bringen und technokratisches Gedankengut verdrängen: "Die Hoffnung ist konkret. Man muss sie äußern: auf der Straße und institutionell in den Parlamenten. Deutschland hat ein Recht auf politische Hoffnung.”

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